Ich leb und waiss nit, wie lang,
Ich stirb und waiss nit, wann,
Ich far und waiss nit, wohin,
Mich wundert, dass ich froelich bin.
aus dem Mittelalter
Alles geht ja ständig nichts als den Bach runter. Hört man auch tagtäglich im Radio, sieht man im Fernsehen, kurz: der Untergang ist allgegenwärtig. Die Prognosen stehen schlecht und werden stetig nach unten nachkorrigiert, und die nächste Katastrophe lauert schon hinter dem morgigen Kalenderblatt. Da will man gar nicht mehr aus dem Bett, oder? Lieber die Decke noch einmal über den Kopf ziehen, sich zur Wand drehen, Augen zu und schnarch. Aber nein, der Wecker ist unerbittlich, kneifen gilt nicht. Also raus aus den Federn, dem Schreckbild im Spiegel ins Auge sehen und ihm mit Rouge und Tusche ein Gesicht aufmalen, auf geht’s zur Arbeit. Und natürlich ist es draußen noch dunkel und eisig, und plötzlich meldet sich auch noch eine Erkältung, und wo zum Geier ist das verdammte Papiertaschentuch. Hatschi. Wirklich, wer gar nicht erst aufsteht, hat nichts verpasst. Noch besser wäre, gar nicht erst zur Welt kommen. Oder wenn, dann einfach nie erwachsen werden. Wo es doch ohnehin nur ständig schlimmer wird. Mit der Welt und mit uns selbst. Älter werden ist ja auch keine Freude. Schwindende Haaransätze, Hühneraugen, Zipperlein, und in den Minirock von damals passt nur noch ein Bein. Da fällt es nicht schwer, dran zu glauben, dass die Menschheit am Ende ist. Global gesehen zumindest. Wenn man nämlich die Einzelnen befragt, sieht die Sache schon ganz anders aus. Ja, in Bezug auf die Allgemeinheit, da ist jeder pessimistisch. Wird ein schweres Jahr. Aber in Bezug auf sich selbst – da sind doch die meisten guter Dinge. Ich pack’s schon irgendwie. Diese Einstellung mag nach dem zuvor Gesagten erstaunen, ist aber statistisch belegt. Und denken Sie mal kurz an sich selbst: Glauben Sie wirklich, dass alles nur schlechter wird? Und wenn ja, warum gehen Sie dann überhaupt noch aus dem Haus? Die Antwort ist einfach: Die meisten von uns machen einfach weiter, allen Fährnissen zum Trotz. Mag ja sein, dass die wirtschaftliche Lage nicht rosig ist. Dass der Gürtel enger geschnallt werden muss. Dass es schon bessere Jahre gegeben hat. Allenthalben wird deswegen gejammert. Aber in wirkliche Verzweiflung stürzen – glücklicherweise – nur wenige. Ja, die Situation ist prekär, wir wissen nicht, was noch werden wird, die Menetekel sind bedrohlich, und doch trägt Frau Müller heute ein lustiges Hütchen. Herr Schmidt genießt seinen Morgenkaffee. Und Ralf fragt Lisa heute endlich, ob sie mit ihm ausgehen will. Sie alle schlagen der Krise ein Schnippchen, indem sie sie mit kleinen, unbezahlbaren Momenten der Freude füllen. Die Weisheit ist banal: Es sind die kleinen Dinge, die das Leben liebenswert machen. Ein Lächeln über ein ehrliches Kompliment, ein freundliches Gespräch am Zeitungskiosk, ein Blümchen zwischen Pflastersteinen – kurze Stimmungsaufheller, die das Alltagsgrau bunt machen. Wir brauchen diese kleinen, glitzernden Mosaiksteinchen im Gesamtbild unseres Lebens, und wir teilen sie gerne mit anderen. Das Internet ist das beste Beispiel dafür. In Fotos, Videos, Texten zeigen Menschen in erster Linie das, was sie zum Lachen oder zumindest zum Lächeln bringt, ganz unpolitisch und unpolemisch. Ablenkungen, könnte man jetzt abschätzig sagen, Banalitäten. Unsinn. Und es stimmt natürlich: Die Flucht in die kleinen Freuden kann man auch als Vogel-Strauß-Taktik geißeln. In diesen Tagen, in denen ständig zu Empörung und Engagement aufgerufen wird, scheint der Rückzug zu kuchenseliger Gemütlichkeit ein unverzeihlicher Akt politischer Realitätsverweigerung. Es einfach mal schön haben zu wollen, scheint nicht möglich, solange die großen Probleme unsere Tage nicht gelöst sind. Was nützt der blaue Himmel, solange der Ruf nach mehr Gerechtigkeit ungehört verhallt? Wer will sich schon mit Tischdekorationen für die Betriebsfeier aufhalten, solange der Kollektivvertrag nicht neu ausgehandelt ist? Wir hätten ständig Anlass, uns zu ärgern. Verdrießlichkeit bringt uns aber nicht weiter. Sie hemmt uns, bindet unsere Energien an vergebliche Feldzüge, die nur allzu oft als leere Wutausbrüche verpuffen. Wer sich hingegen worüber auch immer freuen kann, soll es tun. Freude hebt nicht nur die Laune, sie gibt auch Kraft, das wusste man schon in viel dunkleren Zeiten als den unseren. Sich zurücklehnen, die Augen schließen, ein schönes Musikstück genießen. Oder auf einem Spaziergang alles hinter sich lassen, auch nur für Minuten - solange die kleine Flucht aus dem Alltag nicht blind für die Nöte der Gegenwart macht, ist nichts dagegen einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Es kann auch gut tun, sich ablenken zu lassen. Oft sehen Probleme gleich viel bewältigbarer aus, wenn man einen Schritt zurücktritt. Und was sich nicht ändern lässt, wird durch die Beschäftigung mit schönen Nichtigkeiten zumindest nicht schlimmer.
Auch im neuen Jahr wird das große Glück wohl auf sich warten lassen. Die Schreckensmeldungen stehen schon in den Startlöchern. Der Weltuntergang ist verschoben, aber nicht abgesagt. Wir müssen wachsam bleiben. Aber wir dürfen uns auch Zeit für die netten Nebensachen des Lebens nehmen. Filme, Konzerte, gute Bücher – Realitätsverweigerung? Nein, die Erweiterung der Realität um das, was sie erträglich macht: das Schöne.