1.Ab sofort heißt das nicht mehr Südtirol. Sondern Südminustirol. Hier wird subtrahiert, soll das heißen, weggerechnet, säuberlich getrennt. Südminustiroler sind keine Südtiroler. Die nämlich sind nur arme Würstchen und auf keinen Fall Patrioten wie ich. Damit das klar ist.
2.Südminustirol ist meine Heimat, mehr noch, mein Vaterland, und daher bin ich stolz drauf. Zum Platzen stolz. Ich bin stolz auf die majestätischen Berge, die kristallklaren Seen, die lieblichen Täler, die sonnigen Höhen, und zwar so stolz, als ob ich persönlich für ihre Majestät, die Kristallklarheit, die Lieblichkeit und die Sonne verantwortlich wäre. Es wird doch niemand bestreiten, dass der Schlern etwa oder die Dolomiten vor allem im Abendglanz von spektakulärer Schönheit sind. Und was wir alles geleistet haben! Also, nicht ich direkt, aber indirekt. Ich bin an den Errungenschaften in meinem Land quasi genetisch mitbeteiligt, auch wenn ich sonst nichts dafür geleistet habe. Meinen Stolz aber kann mir niemand nehmen. Der ist mein gutes Recht, mehr noch, meine patriotische Pflicht. Ohne meinen Stolz nämlich wäre Südminustirol nur halb so schön.
3.Der Kleiderschrank wird von allen unpatriotischen Stoffbehängen gesäubert. Ab nun gilt: Wenn’s um etwas geht, unbedingt Tracht. Und irgendwas mit Federkielstickerei. T-Shirts mit Adler, Hofer und/oder markigen Sprüchen geziemen sich freilich nur für die Männer. Als Frau mach ich in meinem tief ausgeschnittenen Polyester-Kurzdirndl made in China gute Figur und zeige, worauf’s ankommt.
4.Die Sprache des Vaterlandes ist Deutsch. Darum wird sie auch gepflegt. Und zwar im Dialekt. Den verwende ich immer – für SMS, E-Mails, Hochzeitsanzeigen und Firmeninserate. Hochdeutsch kann ja jeder. Sogar Ausländer.
5.Meine Heimat Südminustirol ist zwar, siehe Punkt zwei, stolz und schön, aber zugleich ist sie nicht so, wie sie eigentlich sein sollte, nämlich noch stolzer und noch schöner, und zwar, wenn sie endlich unabhängig wäre. Solange ich Euros mit dem vitruvianischen Mann herumtragen muss, kann ich nicht glücklich werden – Tiroler sehen anders aus. Und außerdem: Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, und wer geglaubt hat, das bestünde darin, dass jeder Einzelne versuchen kann, sich selbst zu verwirklichen, der hat sich getäuscht: Solange sich das Vaterland nicht verwirklicht hat, kann und darf sich auch nichts und niemand anderes verwirklichen. Punkt.
6.Dass ich ein solides Geschichtsbewusstsein habe, beweise ich mit einer sorgfältig inszenierten, formalinsauren Opfermiene. Ich weiß, was man meinen Großeltern angetan hat. Dass meine Oma eine fröhliche Frau ist, verdankt sie nur ihrer unerschütterlichen Tiroler Genetik. Ich hingegen leide stellvertretend für sie, und zwar ständig. Ich habe ein Gedächtnis. Hauptsächlich für jene Dinge, die ich selbst nicht erlebt habe. Die Gräuel der faschistischen Italianisierung kann ich rückwärts im Schlaf herunterbeten. Wann die französische Revolution war und was es damit auf sich hatte, weiß ich zwar nicht so genau, und wogegen der Hofer Ander gekämpft hat, ist mir auch nicht so richtig klar (sicher gegen die welsche Bande, was sonst). Dafür weiß ich eines: Geschichte ist nie vorbei. Ich zumindest erfahre Faschismus täglich neu – und ich habe den Verdacht, auch der Strafzettel fürs Falschparken, den mir ein welscher Besatzercarabinieri reingewürgt hat, war ein Akt der Unterdrückung.
7.Und apropos Besatzer: Am Gymnasium habe ich die italienische Literatur geliebt und habe problemlos die italienische Sprache in meinen Alltag eingebaut, aber damit muss jetzt Schluss sein. Damit, das ist mir jetzt klar geworden, habe ich nur tolomeische Assimilierungsprogramme vorangetrieben. Jetzt schleiche ich mit düsterer Miene durch die Straßen der Stadt, runzle bei jedem „Buon giorno“ missbilligend den Kopf und nehme verbittert die italienische Beamtin am Postschalter als weitere Manifestation der ununterbrochenen Unterdrückung meiner angeborenen Menschenrechte zur Kenntnis.
8.Obwohl Südminustirol ein geknechtetes Land ist und seine echte Urbevölkerung ein entrechtetes und freudloses Dasein fristen muss, zieht es immer mehr sinistre Gestalten an. Das liegt nicht daran, dass Südminustirol so schön ist (siehe Punkt zwei), sondern, dass es durch das Zusammenspiel Urtiroler Werte und – zugegeben – die untirolerischen Umtriebe mancher Landesverräter (siehe Punkt 9) ein wirtschaftlich solides Land geworden ist, in dem es sich leben lässt. Und davon wollen nun natürlich die Faulen aus der ganzen Welt profitieren. Kommen und setzen sich ins gemachte Nest. Als Patriotin kann ich da nur „pfui“ rufen. Was glauben die eigentlich? Haben dafür meine Urgroßeltern nach all den Schikanen schlussendlich fürs Auswandern ins Deutsche Reich optiert, ist Tante Lina dafür nach Mailand putzen und Onkel Ossi dafür nach Stuttgart in die Fabrik gegangen, dass jetzt, wo die schlimme Zeit vorbei ist, jeder daherkommen kann, um in unserem schönen Landl die Rosinen aus dem Kuchen zu picken? Die sollen gefälligst dahin zurückgehen, wo sie herkommen, wäre ja noch schöner. Nur meine polnische Altenpflegerin soll bleiben. Keine kümmert sich so lieb um die Oma wie die.
9.Als aufrechte Patriotin weiß ich aber vor allem eins: Die Besatzer des geknechteten Vaterlands sind nicht einmal das größte Problem, auch nicht die ununterbrochen zuströmenden Untermen … Unterschichtspersonen mit Migrationshintergrund. Es gibt noch etwas Schlimmeres, Gefährlicheres, etwas, das ich mit aller Macht bekämpfen muss: meine Mitsüdminustiroler. Oder eigentlich: die Südtiroler. Ohne Minus. Also die, die genau wie ich auf einen jahrhundertealten Urtiroler Ahnenstamm zurückblicken können und trotzdem nichts daraus gelernt haben. Mit einem Wort: die, die keine Patrioten sind. Eine schlappe Bande verweichlichter Vaterlandsverräter, die sich durch Geld und Bequemlichkeiten korrumpieren lassen. Leider gibt es viele von ihnen, zu viele. Die Wirtin zum Beispiel, die ihre italienischen Gäste nicht etwa mit griesgrämigem und widerwilligem Murren bedient, sondern mit einem freundlichen Lächeln – und auf Italienisch! Für Geld vergisst sie ihre Würde als unterdrückte Sprachminderheit! Oder jene deutschsprachigen Eltern, die ihre Kinder in den italienischen Kindergarten schicken. Wo unsere deutsche Sprache doch dermaßen gefährdet und vom Aussterben bedroht ist! Wer im Kindergarten italienisch lernt, wird nie wieder so gut Deutsch sprechen wie ein echter Patriot, oschpelemuggn. Und überhaupt sind alle, die in diesem besetzten Land irgendetwas anderes tun als pausenlos auf unseren Sonderstatus als verfolgteste und gefährdetste aller Minderheiten weltweit hinzuweisen, generell und sowieso Landesverräter. Wer es wagt, guter Dinge zu sein, wer es wagt, mit den Besatzern und dem Ausländerpack gemeinsame Sache zu machen, der ist ein gefährlicher Anhänger verschrobener Multikultiphantasien. Der aufrechte Südminustiroler kauft nicht beim Welschen und macht mit ihm keine Geschäfte. Doch beim jüngsten Alpinitreffen hat sich wieder einmal gezeigt, wie lasch wir geworden sind. Aber keine Sorge, ich sehe genau hin. Ich merke mir, wer ein Schädling für die große Sache ist, die da heißt: Südminustirol den Südminustirolern! Und das bedeutet auch, dass jene, die sich partout weigern, sich wie echte Südminustiroler aufzuführen, diszipliniert werden müssen. Dazu fällt mir sicher was ein. Und wenn nicht mir, dann meinen Mitpatrioten. Denn auch das gehört zu meinem neuen Credo als Patriotin:
10.Der Patriot tritt nie als Einzelner auf, sondern immer in Gruppen. Gemeinsam nämlich lassen sich die zuvor genannten neun Punkte viel leichter umsetzen. In der patriotischen Gruppe darf ich auch endlich mal lachen. Das ständige Stirnrunzeln meiner Opfermiene ist auf Dauer anstrengend. Im geschützten Kreis meiner Mitstreiter kann ich mich endlich mal entspannen. Ich weiß mich unter Gleichgesinnten. Das tut gut. Als Patriot ist man nämlich ständig der Kritik ausgesetzt. Dagegen hilft nur eins: Die Schotten dicht machen und in die eingeschworene Gemeinschaft abtauchen. Dorthin können die kritischen Stimmen nicht dringen, dort werden sie übertönt und sofort als das eingeordnet, was sie sind: vaterlandszersetzende Umtriebe. Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die Geschichte beweist das immer wieder. Man muss nur bereit sein, für seine Idee über Leichen zu gehen, vor allem über die Leichen anderer.
Ich muss schon sagen: Das Umsetzen all dieser Punkte ist kräftezehrend und aufwendig. Ständig muss man auf der Hut sein. Ich beobachte mich selbst: Ist mir da etwa „Targa“ entfahren statt „Autokenntafel“? Habe ich beim Anblick des netten Ausländerkinds beim Spielen gelächelt, statt an die schleichende Überfremdung des Vaterlandes zu denken? Und warum habe ich manchmal einen unbezähmbaren Appetit auf Lasagne und Tiramisu statt auf Knödel und Apfelstrudel? Ich bin schwach, merke ich. Ich mag mich nicht ständig über Kleinigkeiten aufregen. Aber was rede ich denn da! Das sind doch keine Kleinigkeiten! Es geht um das VATERLAND. Ich erschauere vor dem Wort. Vor dem VATERLAND versagt mir die Muttersprache. Ich fürchte, eine Patriotin wie mich hat das VATERLAND nicht verdient. Tut mir leid, chinesisches Polyesterdirndl. Es wird nichts aus uns. Ich bleibe lieber Nestbeschmutzerin.