Das Internet ist eine tolle Sache. Dort kann man sich mit anderen austauschen und sie beraten. Und das tu ich gern. Ich kenn mich aus. Und zwar mit allem.
Der Alltag ist oft frustrierend. Dort bin ich nichts weiter als ein Mauerblümchen, ein Würstchen, das nichts zu sagen hat. Dabei sehne ich mich nach Respekt und Anerkennung und nach Menschen, die begeistert an meinen Lippen hängen. Warum nur will niemand einsehen, dass ich etwas zu sagen habe? Zum Glück bin ich auf die Idioten der realen Welt nicht angewiesen. Ich habe ja das Internet. Dort zählen unendlich viele Chatforen auf meine kompetente Meinung und meinen beherzten Ratschlag zu den verschiedensten Themen. Es ist also nicht nur purer Zeitvertreib, der mich stundenlang in virtuellen Welten versinken lässt. Nirgends bin ich so wichtig, so respektiert, so gleichberechtigt und so ungehemmt wie im Netz. Da kann ich endlich so richtig zeigen, was ich alles draufhabe. Und das ist eine ganze Menge. Auch, wenn das meine Mitmenschen in der richtigen Welt anders sehen. Im Internet kann ich frisch fröhlich frei auftreten und meine wertvollen Erfahrungen mit anderen teilen. Deswegen bin ich unter zahlreichen Pseudonymen, sogenannten Nicknames, in den verschiedenen Foren angemeldet. Als „gutemutti“ rate ich verunsicherten Jungköchen, zur Geschmacksverbesserung unbedingt in jedes beliebige Gericht einen halben Brühwürfel und einen Esslöffel Zucker zu geben – ja, auch an Salat oder ins Müsli. Als „doctor_wildlife“ gebe ich kompetente Tipps zum Umgang mit selbstgebrauten Tränken zur Potenzförderung: Man nehme eine Handvoll Wildschweinhaare, drei Lorbeerblätter, fein zerriebenen Braunbärenkot – handgesammelt im Ultental – und lasse alles zusammen mit einem abgesägten Hirschhorn zwölf Stunden köcheln. Zum Schluss füge man dem Absud einen halben Brühwürfel und einen Esslöffel Zucker hinzu und nehme ihn schluckweise bei Vollmond ein. Das Rezept ist der Renner. Überhaupt mische ich gerne überall dort mit, wo es um medizinische Betreuung geht. Ich versorge schwangere Teenager mit unfehlbaren Ferndiagnosen („glaub mir, wenn dein Baby dich nicht täglich tritt, ist es hirntot“), erkläre Menschen mit Angst vor dem Zahnarzt, wie man mit einem Beutel Eiswürfel, einer Tasse starken Kaffees und viel Schnaps einer Wurzelbehandlung aus dem Weg geht oder tausche mit Magersüchtigen Erfahrungen aus, wie man es am besten vermeidet, beim Nicht-Essen erwischt zu werden.
Aber damit ist meine umfangreiche Aktivität noch lange nicht ausgeschöpft. Auf Finanz-Chatseiten preise ich interessierten Anlegern unterschätzte Aktien als Geheimtipp an („Katzenfutter aus Elefantendarm – das wird in den nächsten Jahren der große Bringer!“) oder beweise meinen Grünen Daumen, wenn ich Hobbygärtner berate („Bei Bäumen im Winter immer alle Äste wegschneiden, nur dann wird das was mit einer schönen Krone im Sommer.“). Im Familienforum weise ich mich als Experte in Kindererziehung aus und räume endlich mit dem Vorurteil auf, dass man Kinder nicht schlagen dürfe. Natürlich darf man das. Mach ich selbst auch ständig. Hab ich von Vattern gelernt. Der war nicht zimperlich. Und, hat’s mir geschadet? Ich hab mich ja prächtig gemacht.
Mir ist klar, dass mein Rat nicht unumstritten ist. Weichgespülte Gutmenschenschwachköpfe werfen mir vor, ich sei unsachlich und ahnungslos und mein Rat sei nicht nur falsch, sondern auch noch gefährlich. Sie bestehen darauf, dass meine Kommentare gelöscht werden. Und wenn schon. Dann melde ich mich eben anderswo an. Meine Phantasie für neue Nicknames ist schier unbegrenzt. Ebenso wie mein Tätigkeitsfeld im Netz. Im Forum für Depressive stehe ich etwa selbstmordgefährdeten Menschen psychologisch bei („Selbstmord ist keine Alternative. Zumindest nicht, wenn er so dilettantisch geplant ist wie von dir. Aber das ist ja nur ein weiterer Beweis dafür, dass du selbst für so etwas zu blöd bist.“). Meine offene und ehrliche Art wird dabei sehr geschätzt. Ich genieße es, dass ich mich im Netz der lästigen Fesseln von guter Erziehung, Höflichkeit und gepflegter Wortwahl entledigen kann. Ungeschminkt einfach das rauszudonnern, was mir durch den Kopf geht, tut gut. Unter dem Namen „geläufigegurgel2012“ kommentiere ich zum Beispiel die Amateurvideos unbeholfener Möchtegernsänger, die nach Ruhm und Ehre streben. Meine Anmerkungen sind schonungslos und lassen selbst Dieter Bohlen lammfromm aussehen, wenn ich etwas der 14jährigen Charlene mitteile, dass sie es mit ihrem piepsigen Stimmchen höchstens zur Synchronsprecherin eines südkoreanischen Hardcorepornos schafft. Und dass ich ihr das nächste Mal nur zuzuhören gewillt bin, wenn sie nackt auf dem Rücken liegend singt. He, das Mädel hat sich selbst in die Öffentlichkeit gestellt. Da muss sie auch mit negativen Reaktionen rechnen. Ich habe nicht den Hauch eines schlechten Gewissens. Das Leben ist immerhin kein Ponyhof. Und solange niemand erfährt, dass die abwertenden Verhöhnungen von mir sind, kann ich doch ungebremst die Sau rauslassen. All diese verklemmte „politische Korrektheit“ geht mir sowieso nur auf den Geist und ist was für Schlappschwänze.
Manchmal schreibe ich Kommentare auch einfach nur, um mich daran zu ergötzen, wie sich andere darüber aufregen. Ich habe meine diebische Freude daran, zu sehen, wie sie mit erhobenem Zeigefinger moralisch tun. So trolle ich mit verunglimpfenden Sprüchen durch christliche und islamische Foren, provoziere interethnische Konflikte und beschimpfe Behinderte. Oder ich sorge für einige Aufregung, indem ich Wahnsinnstaten ankündige. Im Netz ist alles ein großes, grenzenloses Spiel. Ich kann sein, wer immer ich will. Beziehungsexperte, Spitzensportler, Profikoch, erfolgreicher Unternehmensberater, erbarmungsloser Kunstkritiker. Alle diese Masken stehen mir ausgezeichnet. Schließlich geht es keinen der Schwachköpfe etwas an, was ich im richtigen Leben mache. Freilich fragen mich manchmal andere User, ob ich mich nicht schäme, solchen Müll abzusondern. Dann verbitte ich mir die gehässige Formulierung nachdrücklich und ziehe mich auf den Standpunkt zurück, dass ja jeder seine eigene Meinung haben darf. Und immerhin muss niemand das tun, was ich sage. Kann ich doch nichts dafür, dass die eine dumme Nuss sich aus dem Fenster geworfen hat. Was nimmt sie auch alles so ernst. Verantwortung? Im Internet? Das wäre ja noch schöner! Genau das ist ja der Spaß daran, dass man für nichts, was man von sich gibt, geradestehen muss!
Kürzlich ist mir aber dann doch etwas Unangenehmes passiert. Plötzlich standen Herren mit grauen Anzügen und ernsten Gesichtern vor meiner Tür. Es stellte sich heraus, dass sie gar nicht mich, sondern meinen Computer suchten. Der ist nämlich, im Gegensatz zu mir, im Internet nicht anonym. Er scheint auf manchen Seiten recht brisante Spuren hinterlassen zu haben – und nun werde ich als Urheber verdächtigt. Es heißt, ich müsse mit einer nicht unerheblichen Gefängnisstrafe rechnen. Sofort habe ich eine Petition gegen die Unterdrückung der Meinungs-, Ausdrucks- und Netzfreiheit aufgesetzt. Im Internet natürlich. Ich habe schon tausende Unterstützer. Auf seine Freunde kann man sich eben verlassen.