Irgendwo da draußen, in den unermesslichen Weiten des Weltalls, gibt es unseren Planeten noch einmal. Mit denselben Kontinenten, denselben Pflanzen, denselben Tieren, ja, sogar mit denselben Städten und Häusern. Auch uns selbst gibt es dort noch einmal, genau gleich wie hier, mit nur einem Unterschied: Wir leben dort das Leben, das wir hier aufgrund bestimmter Ereignisse, Zufälle und Entscheidungen nicht leben können (oder müssen). Dort haben wir uns für ein anderes Studium entschieden, dort haben wir im Lotto gewonnen, dort ist unsere Wohnung abgebrannt. Dort sind wir ganz anders, obwohl alles andere genau gleich ist. Skurril, diese Vorstellung, nicht? Und irgendwie beängstigend. Zum Glück ist das alles nur die Phantasie versponnener Theoretiker. Aber angenommen, es gäbe sie wirklich, die Parallelwelt, in der wir einen ganz anderen Weg eingeschlagen haben: Würden Sie einen Blick riskieren? Aus purer Neugier, einfach um zu sehen, wie Ihr Leben auch hätte sein können? Was mit Ihnen geschehen wäre, wenn... Ja, wenn.
Schon bewegen wir uns im Konjunktiv, in der Möglichkeits-, oder genauer, in der Unmöglichkeitsform. Wenn ich damals eine andere Entscheidung getroffen hätte. Wenn ich den Unfall hätte vermeiden können. Wenn ich auf den Rat meiner Freunde gehört hätte. Wie oft wälzen wir derlei Gedanken im Kopf herum! „Hätte ich damals doch nur die Gelegenheit genutzt!“, „Wäre ich doch nur meinem Instinkt gefolgt!“ Oder umgekehrt: „Wäre ich doch vernünftiger gewesen!“, „Hätte ich doch weniger riskiert!“
Wir wissen, dass solche Grübeleien sinnlos sind, und dennoch ertappen wir uns immer wieder dabei. Es fällt uns nicht leicht, uns damit abzufinden, dass das Leben uns ein Bein stellt, oder dass unsere Entscheidungen nicht immer die gewünschten Ergebnisse bringen. Wir hoffen freilich, dass wir aus Fehlern lernen, aber zugleich ist uns auch bewusst, dass es gewisse Chancen gibt, die man nur einmal im Leben hat.
Ich habe allerdings festgestellt, dass es eine Haltung gibt, mit der sich jede Widrigkeit ertragen und jede Fehlentscheidung rechtfertigen lässt. Anstatt sich nächtelang in Selbstvorwürfen zu zerfleischen oder das grause Schicksal zu beklagen, fügen sich viele Menschen in ihr Los, indem sie ein ergebenes „Wahrscheinlich ist es besser so“ seufzen. Eine interessante Einstellung. Wir wissen nicht, was aus uns geworden wäre, „wenn“. Gerne malen wir uns aus, dass unser Leben viel rosiger, unkomplizierter, angenehmer wäre. Umso bemerkenswerter ist es dann, wenn jemand sagt: „Ach, wenn ich eine Villa in Florida hätte, mich um nichts kümmern müsste... Das wäre vielleicht gar nicht das Richtige für mich. Außerdem, wer so reich ist, hat auch viele Neider. Und vielleicht verliere ich beim nächsten Börsencrash alles. Nein, das wäre nichts für mich. So, wie es jetzt ist, ist es wahrscheinlich besser.“
In den meisten Fällen ist die Einstellung „so wie es ist, ist es besser“ nachvollziehbar und hat durchaus einiges für sich. Der ersehnte Lottogewinn, der Wunschjob – im Land der Träume sind sie manchmal tatsächlich besser aufgehoben, anstatt von der Realität entzaubert zu werden. Wir wissen nicht, ob der andere Weg, die andere Entscheidung, das Ausbleiben des Zufalls uns wirklich langfristig ein besseres Leben beschert hätten. Sich einzureden, dass es so, wie es gekommen ist, am besten gekommen ist, ist letztlich ein effizienter Selbstschutz. Verpassten Gelegenheiten nachzutrauern macht unser Leben nicht schöner. Was für den Einzelnen gilt, gilt gleichermaßen für das Kollektiv: Verbissen am Schmerz der Vergangenheit festzuhalten, Grenzverschiebungen zu betrauern, mittlerweile längst etablierte Realitäten nicht zu akzeptieren, politische oder wirtschaftliche Systeme, die unsere Welt bestimmen, zu verteufeln, zermürbt auf die Dauer, macht verbittert, vielleicht sogar krank.
Genügsamkeit, Bescheidenheit, vor allem Zufriedenheit sind erstrebenswerte Tugenden. Neid und Selbstmitleid können das Leben vergiften. Interessanterweise aber führen beide Haltungen oft zum selben Ergebnis: zum Stillstand, zur Untätigkeit. Der allzu Zufriedene legt die Hände in den Schoß. Er ist „angekommen“. Der Neidzerfressene oder im Selbstmitleid Ertrinkende blickt nur voller Missmut auf die anderen oder auf die verpatzte Vergangenheit und tut ebenfalls – nichts. Die Welt verändern beide nicht, beide werden nie erfahren, wie es gewesen wäre, sich wenigstens um ein anderes Leben zu bemühen.
In diesen Tagen marschieren Tausende von sogenannten „Indignados“, also „Empörten“, auf den Straßen Europas. Auch hier in Südtirol. Sie wollen sich nicht länger damit abfinden, dass die Welt, so wie sie derzeit ist, die „beste aller möglichen Welten“ sein soll. Ich muss zugeben, dass ich dieser Bewegung mit geteilten Gefühlen gegenüberstehe. Es liegt vieles im Argen, und täglich bin auch ich über Zustände und richtiggehende Schweinereien entrüstet. Die rhetorisch scheppernde Empörung allein scheint mir indes als Antrieb für eine wie auch immer geartete „Weltverbesserung“ zu wenig. Freilich bin ich deswegen keineswegs für brennende Autos und Molotow-Cocktails. Da ziehe ich den friedlichen Protest allemal vor. Aber ich versuche mir vorzustellen, was geschieht, wenn die Empörten ihre Transparente zusammenrollen und nach Hause gehen. Die Straßen, Plätze, die Häuser werden dieselben sein wie zuvor. Aber wird sich in den Menschen etwas verändert haben? Oder sehen wir im Fernsehen die fäusteschwingenden „Schreier“, ohne ihnen recht zuzuhören und schalten dann auf ein anderes Programm, auf dem Werbung läuft? In diesen Monaten, in denen ständig neue Revolutionen in allen Farben ausgerufen werden, scheint es auf eine mehr oder weniger nicht mehr anzukommen. Am Ende verpufft alles und bleibt fast genauso, wie es war (wenn es nicht gar schlimmer wird). Ich frage mich ernsthaft, ob das besser so ist. Und ich gebe es zu: Nur zu gern wüsste ich, wie die Sache drüben ausgehen würde – in der Parallelwelt.