Der junge Mann hat alles: eine samtige Stimme, ein angenehmes Äußeres, das ihn zum Teenie-Schwarm prädestiniert, er spielt tadellos Gitarre, covert gekonnt berühmte Vorbilder und komponiert auch einige seiner Lieder selbst und nutzt als Plattform für die „weite Welt“ das Internetportal YouTube – nein, die Rede ist nicht von Justin Bieber. Der ist Millionär, tritt in den größten Konzerthallen vor Zehntausenden auf und bricht die Mädchenherzen. Gemeint ist Moumen, von dem Sie noch nie gehört haben. Er ist Gelegenheitsjobber und spielt nebenbei in Fußgängerzonen und auf kleinen Stadtplätzen, wo er seine selbstgebastelten Tonträger zu verkaufen versucht, auf denen er alle Instrumente selbst spielt und darüber hinaus auch noch mit sich selbst zweistimmig singt. Es ist nicht leicht für ihn, Aufmerksamkeit zu bekommen, schon gar nicht, wenn die Leute gestresst durch die Straßen hetzen. Wer bleibt schon bei einem Straßenmusiker stehen? Dabei würde es sich bei einem wie Moumen lohnen. Das Zeug zum „Superstar“ bringt er mit. Warum klappt es trotzdem nicht? Hier kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht ist für Moumen seine marokkanische Herkunft ein Hindernis. Vielleicht fehlen ihm auch die Mittel, sich selbst zu „lancieren“. Vielleicht aber hat er einfach (noch) nicht die richtigen Leute getroffen, die ihm weiterhelfen können. Es gibt – in jeder Sparte – viele Gründe für ausbleibenden Erfolg. Interessanterweise spielt dabei die Qualität einer Arbeit eher eine untergeordnete Rolle. „Gut“ sind die meisten. Aber „gut“ ist eben nicht gut genug. Talent, eine solide Ausbildung, Fleiß, Leistungsbereitschaft sind keine Garanten für beruflichen Aufstieg. Sie sind wichtige, ja, grundlegende Voraussetzungen, aber sie reichen nicht. Gefragt ist immer das Quäntchen mehr, das „Plus“, das von den anderen, die auch fleißig und begabt sind, abhebt. Es geht darum, sich kreativ und individuell zu positionieren und genau das gewisse Etwas mitzubringen, das anderen fehlt. Schon allein dieser Anspruch ist hoch genug, denn die Konkurrenz schläft nie. Darüber hinaus aber braucht man eine gewisse Portion Glück, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Vor zwanzig Jahren stand auch ein anderer begabter Straßenmusiker auf einem Platz und spielte seine Lieder: Pippo Pollina. Er wurde von einem anderen Musiker, dem damals schon arrivierten Schweizer Liedermacher Linard Bardill, entdeckt und gefördert. Heute spielt Pippo Pollina überall in Europa und füllt die Konzertsäle. Solche Geschichten lieben wir: ein Mann und seine Gitarre erobern die Welt im Alleingang. Sie erzählen unser Lieblingsmärchen: dass der Gute am Ende triumphiert. Die Geschichte von denen, die es nicht packen, hören wir weit weniger gern. Wir wollen uns nicht eingestehen, dass es eben nicht immer der „Gute“ ist, der im Vordergrund steht, sondern oft auch einfach nur der Glücklichere. Für die vielen gescheiterten Karrieren haben wir Erklärungen, die tröstlich klingen: Er hatte einfach nicht das Zeug dazu. Er hat auf die falsche Karte gesetzt, er hat sich verschätzt, er war nicht gut genug. Dabei sollten wir uns einmal vor Augen führen, was es bedeutet, als Selbstvermarkter „gut genug“ zu sein: Es reicht nicht, sein Handwerk zu beherrschen. Man muss darüber hinaus seine Finanzen im Griff haben und kalkulieren können, sollte also buchhalterische Grundkenntnisse mitbringen. Man muss sich und seine Geschäftsidee auch entsprechend präsentieren, was nicht nur bedeutet, ständig adrett auszusehen und seinen Betrieb in Schuss zu halten. Man muss auch seine PR im Alleingang vorantreiben, das bedeutet, dass man ansprechende Fotos braucht, schmissige Infotexte, einen aussagekräftigen Internetauftritt. Man muss flexibel auf Kundenwünsche eingehen und innerhalb kurzer Fristen Aufträge erfüllen können. Und nicht zuletzt wird Liebe zum Detail vorausgesetzt: Eine hervorragende Küche allein etwa macht kein gutes Restaurant aus, die Tische sollen zudem geschmackvoll gedeckt und die Speisekarte natürlich fehlerfrei sein. Kurz: Das „Gesamtpaket“ muss stimmen – bis ins Detail. In manchen Branchen war das immer schon so, und daher gab es dort auch meistens eine Zusammenarbeit mehrerer Experten. Erfolgreiche Betriebe haben Fachleute, die sich um die einzelnen Bereiche kümmern. Je kleiner ein Unternehmen ist, desto schwieriger finanzierbar wird dies aber. In diesen Tagen, wo das Sparen an allen Ecken zum Leitmotiv geworden ist, fällt auf den Einzelnen immer mehr Arbeit ab, oft Arbeit, für die er weder begabt noch ausgebildet ist. Dann macht eben der Praktikant die PR-Aussendungen, dann schießt die Sekretärin die Fotos für die Homepage, macht der nächste, der ein paar Minuten übrig hat, die anfallende Bürokratie usw. Ist doch nichts dabei, oder? Was aber, wenn aus der Nebentätigkeit ein regelrechter Klotz am Bein wird? Wenn man sich nicht mehr auf sein Kerngeschäft konzentrieren kann, weil man ständig mit anderem beschäftigt ist, das eben auch noch erledigt werden muss? Hier wird nicht gespart, ganz im Gegenteil: Hier wird Potential vergeudet.
Die „Ich-AG“ ist das Schlagwort einer Zeit, die immer mehr vom Einzelnen verlangt und ihm gleichzeitig immer weniger bietet. Dabei wissen wir doch, dass einer allein von einer ständig komplexer werdenden Welt überfordert ist. Ohne für Fachidiotentum und Spezialisierungswahn einzutreten: Einer allein kann auch nicht die eierlegende Wollmilchsau spielen, das geht schief. Die „Ich-AG“ ist daher zwangsläufig ein Auslaufmodell, wenn auch noch nicht sofort. Die jüngere Generation hat den Zwang zur ständigen Selbstdarstellung bereits in Handy und PC gelegt bekommen. Eine Weile werden wir daher wohl noch damit weitermachen, uns allein auf den Marktplatz zu stellen und so zu tun, als könnten wir alle möglichen und unmöglichen Anforderungen erfüllen, nur, um anderen Konkurrenten damit das Wasser abzugraben. Irgendwann aber wird eine Wende eintreten, irgendwann werden wir ausgebrannten und totgesparten Prekären erkennen, dass es widersinnig ist zu versuchen, alles allein zu schaffen: Die Steigerungsform von „ich“ ist nicht „noch mehr ich“. Die Zukunft gehört den Kooperationen und Synergien. Nur aus ihnen kann das so dringend benötigte „Plus“ gewonnen werden. Denn ganz egal, wie gut einer allein ist: Zwei Gute, die sich ergänzen, sind besser.