Nachdem sich meine Herzfrequenz wieder normalisiert hatte und ich wieder einigermaßen vernünftig denken konnte, wurde mir nämlich klar, dass ich den Mann nicht als „Straßenrowdy“ oder „gemeingefährlichen Trucker der Apokalypse“ bezeichnen darf. Er war doch augenscheinlich nur gestresst – und das rechtfertigt bekanntlich alles. Zumindest in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist das so, und ich erlebe immer öfter, dass man auch im öffentlichen Bereich mittlerweile den Stress entdeckt hat. Galt dieser früher noch als gesundheitsbeeinträchtigendes Übel, das man besser vermeidet, ist er heute ein Alltagsphänomen, das ungefähr so greifbar ist wie Feinstaub: Alle reden darüber, keiner tut was dagegen. Warum denn auch? Wer keinen Stress hat, mit dem kann doch etwas nicht stimmen! Stress gehört einfach dazu wie der Deppenapostroph auf dem Firmenschild: Klar wäre es ohne ihn schöner, aber man wird ihn einfach nicht los. Und außerdem ist Stress ungeheuer praktisch. Da es ja gesellschaftlich etabliert ist, dass nun einmal jeder Stress hat, kann man damit alle kleinen Mängel und Versäumnisse rechtfertigen. Tagelang nicht zurückrufen? Eine dringende E-Mail-Anfrage monatelang liegen lassen? Sich entgegen anders lautender Beteuerungen bei jemandem einfach überhaupt nicht mehr melden? Das zeugt längst nicht mehr von mangelndem Anstand oder Respekt, sondern einfach nur von Stress. Und mit dieser simplen und zugleich auch überaus schwammigen Begründung wird auch alles abgetan. „Ich hatte Stress“. Da braucht man dann nicht weiter zu spezifizieren, wie es geschehen konnte, dass man ein halbes Jahr lang angeblich nie die Zeit gefunden hat, sich für fünf Minuten mit der Beantwortung einer Anfrage zu beschäftigen. „Stress“ deckt alles zu. So sehe ich mich in zunehmendem Maße überaus gestressten Beamten, Handwerkern, Kaufleuten, Dienstleistern und sogar Freunden gegenüber, die offenbar kaum die Zeit finden, in Ruhe durchzuatmen. Längst geht es hierbei nicht mehr nur um simplen Arbeitsstress, der sich im überschaubaren Rahmen geregelter Werktags-Zeiten bewegt. Ihr Leben ist ganz und gar von Stress durchdrungen, und zwar endgültig und bis in die tiefsten Schichten. Auf den Arbeits- bzw. Schul- und Lern- und Prüfungsstress folgt der Familienstress, der eng verknüpft ist mit dem Haushalts- und Freizeitstress. Doch damit nicht genug. Auch die Ferien bringen nicht die ersehnte Erholung, denn nun geht es mit Urlaubsstress weiter, möglicherweise ganz böse verquickt mit Reise-, Wander- und Wellness-Stress. Und die Blüten der wild wuchernden Stresspflanze werden immer bunter: Als ich neulich einen Freund fragte, ob er nicht Zeit hätte, mit mir etwas zu unternehmen, antwortete er: „Nein, tut mir Leid, ich habe Sozialstress.“ Früher hätte er vielleicht gesagt: „Ich habe schon etwas anderes vor.“ Aber das klingt nicht annähernd so wichtig und verständnisheischend. Denn das ist das Perfide an der Sache: Gegen Stress lässt sich nichts einwenden. Wer gestresst ist, der hat nicht etwa ein schlechtes Zeitmanagement. Er ist lediglich Opfer der Umstände. Der Stress ist über ihn gekommen wie eine Wolke am Sommerhimmel. Dafür kann keiner was. Stress hat keine Ursachen, er kann nicht vermieden oder entschärft werden, er ist einfach nur da. Und das ist gut so. Damit nämlich wird er zu einem fast schon transzendenten Ereignis und hat etwas von einer Marienerscheinung an sich: Wem er widerfährt, der ist auserwählt. Er gehört zum erlauchten Kreis der Gestressten, die sich für nichts mehr Zeit zu nehmen brauchen. Er kann seine Manieren, seine Erziehung, die gesellschaftlichen Konventionen und die Verkehrsregeln völlig außer Acht lassen und auf der Geduld und den Gefühlen seiner Mitmenschen herumtrampeln. Sankt Stressius hält seine Hand über ihn und erteilt ihm die General-Absolution. Kein Wunder also, dass vom Dreikäsehoch bis zum Rentner alle einen gehetzten Eindruck machen. Und zwar immer – selbst im Whirlpool oder in der Hängematte. So fällt es schon gar nicht mehr auf, wenn die gängige Antwort auf die Frage: „Wie geht’s?“ nicht wie einst „Danke, gut“, sondern „Stress, Stress“ lautet, meist begleitet von einem halb entschuldigenden, halb stolzerfüllten Lächeln. Gestresst zu sein ist eine Leistung. Die meditativen Kümmerlinge, die entspannt viel schaffen und trotzdem noch Zeit für Freundlichkeit und Rücksicht haben, die machen etwas falsch. Oder doch nicht?
Neulich habe ich einen Bekannten getroffen und ihn gefragt, ob er für mich Zeit hat. Seine Antwort: „Nein, ich habe keine Zeit. Aber ich nehme sie mir.“ Ich hätte fast geweint.