Ein Gespenst geht um auf dem Arbeitsmarkt – das Gespenst der Mittelmäßigkeit. Die Schulen, Universitäten, Lehranstalten, also jene, die jungen Menschen das Rüstzeug für die Berufswelt mitgeben sollen, spuckten nur noch Massenware, mangelhaften Durchschnitt, 08/15-Menschen aus der Retorte aus, heißt es. Gebraucht würden jedoch belastbare Leistungsträger, außergewöhnliche Talente, Spezialisten, vor allem im technischen Bereich. Auch Redakteurin Evelyn Kirchmaier stößt in der letzten Ausgabe der swz in dasselbe Horn. Wer Schwächen stärke, erzeuge damit eine „graue, uniforme Masse“. Man müsse endlich dazu übergehen, Stärken zu stärken, um Exzellenz zu ermöglichen. So argumentiert sie, wer sich in einem Fach wie Mathematik hervortue, brauche sich nicht auch noch für Geschichte interessieren, und sei es nur, um sich auf die Note „genügend“ zu quälen – bedeutet das nun auch umgekehrt, wer nun einmal ein Faible für Geschichte hat, kann beruhigt darauf verzichten, die Grundrechnungsarten zu beherrschen? Wer ein brillanter Gitarrenvirtuose ist, braucht nicht auch noch über eine annehmbare Grammatik und Rechtschreibung verfügen? Oder gilt die Forderung nach Nachsicht nur für bestimmte Bereiche? Darf man in „unwichtigen“ Fächern getrost mit halbem Ohr zuhören, wenn man in „Kernbereichen“ auf der sicheren Seite ist? Und wer bestimmt, was „unwichtig“ ist und was nicht? Latein, Philosophie, Geschichte, Geographie vielleicht? Französisch, Englisch, Italienisch, wenn’s dem Sprössling nun mal nicht liegt?
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist die Latte für ein „Genügend“ in den Schulen in keinem Fach unerreichbar hoch angelegt, im Gegenteil. Aufgrund der steigenden Rekurswut vieler Eltern tendieren immer mehr Lehrer dazu, sich auch schon mit minimalen Leistungen zufrieden zu geben. Aber wenn man Kirchmaiers Ausführungen folgt, so sind eklatante Schwächen ohnehin vernachlässigbar, solange man dafür in „seinem Fachgebiet“ ein As ist. Aber Hand aufs Herz: Wahrhafte Ausnahmetalente sind dünn gesät. Die meisten Schüler sind, und das ist durchaus nichts Schlechtes, gutes Mittelmaß. Das heißt, dass es vielen gelingt, gleich in mehreren Fächern gute und sehr gute Bewertungen zu erlangen – weswegen sie aber auch in keinem Fach wirklich hervorstechen. Sind sie deswegen dazu verdonnert, in der „grauen, uniformen Masse“ unterzugehen? Oder könnten ihre Vielseitigkeit, ihre Flexibilität und ihre umfangreichen Kenntnisse in einer Arbeitswelt, in der kaum noch jemand ein Leben lang denselben Beruf ausübt, nicht doch von Vorteil sein? Ist der Schrei nach Fachexperten nicht vielleicht vorschnell? Wer auf eine einzige Karte setzt, anstatt mehrere Trümpfe in der Hinterhand zu behalten, riskiert im 21. Jahrhundert mehr denn je. Wie viele herausragende Computerexperten braucht der Markt tatsächlich? Wie viele geniale Maschinenbauer? Und wie viele haben auch wirklich das Zeug dazu, im globalen Wettbewerb der Ausnahmekönner mitzuhalten? Gerade im „Premium-Segment“ sind die Stellen rar. Prekariat und Generation Praktikum sind die Stichworte der Stunde. Auch exzellente Noten, auch überdurchschnittliche Leistungen bewahren nicht vor Ausbeutung und Jobverlust, diese bittere Erfahrung haben schon zu viele machen müssen. Die wirklichen Traumjobs räumen andere ab. Posten in den Führungsetagen werden häufig genug nicht nach Leistung, sondern nach Klassenzugehörigkeit oder Parteibuch vergeben. Die Eliten bleiben lieber unter sich. Das ist nichts Neues. Wer den Sprung in den Chefsessel schaffen will, muss mehr mitbringen als nur spezifisches Fachwissen. Und auch diejenigen, deren Ambitionen bescheidener ausfallen, tun gut daran, ihre Augen und Ohren nach vielen Richtungen offen zu halten. Wir müssen kein Fachdiplom in Elektrotechnik haben, um gefahrlos eine Glühbirne wechseln zu können, wir brauchen kein Doktorat in Geschichte, um den immer weiter um sich greifenden Rechtsextremismus unserer Zeit als gefährlich zu erkennen. Aber eine Ahnung von diesen Bereichen sollten wir haben, wenn wir selbstbestimmte, unabhängige und mündige Bürger sein wollen, die weder dem Geschrei der Werbung noch der politischen Propaganda aufsitzen oder ständig auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Insofern kann man gar nicht „zu viel“ wissen oder „zu viel“ können. Viel größer ist die Gefahr, dass man zu wenig weiß und zu wenig kann. Denn die vielen verschiedenen Anforderungen unseres Alltags zu Hause und im Beruf kompetent zu meistern – das ist alles andere als 08/15.