Hoffnung im Zeitalter der Ohnmacht
Immer mehr Menschen fühlen sich von Politikverdrossenheit, Resignation und Apathie gelähmt. Solidarität und gemeinsames Anpacken von Problemen bleiben auf der Strecke. Was kann dem entgegengehalten werden? – Wie wäre es mit Besinnlichkeit?
Ein Denkanstoß
Mit den Weihnachtswünschen ist es so eine Sache: Die einen wünschen einander „fröhliche Weihnachten“, andere „schöne Festtage“, wieder andere rufen „Merry Christmas“. Im anglophonen Raum ist auch die Formel „Season’s Greetings“ verbreitet, die schlicht „Grüße der Jahreszeit“ entrichtet. Frohsinn und gute Laune stehen meist im Vordergrund unserer Wünsche, und es ist ja auch angenehm, fröhliche und schöne Tage zu verbringen. Etwas seltener ist da ein anderer Wunsch: besinnliche Weihnachten. Man liest ihn noch, von Zeit zu Zeit, in Goldschrift unter flackernden Kerzen, seltener in E-Mails oder Kurzmitteilungen auf dem Handy. Dem Wort „Besinnlichkeit“ haftet ein Geruch von selbstgestrickten Socken und Spießertum an, in einer hippen, gut gelaunten Welt macht es sich etwa so gut wie eine Birkenstocksandale zwischen High Heels. Woran liegt das? Ist es tatsächlich nicht mehr gut um unsere Besinnlichkeit bestellt? Und wenn ja, wie ist es dazu gekommen?
Das Wort löst viele Assoziationen aus: Besinnlichkeit. Darin steckt „der Sinn“, aber auch „die Sinne“ – und „die Sinnlichkeit“. Offen sein, seine Sinne schärfen für die Welt, genau hinhören und hinsehen: das kann es bedeuten, zur Besinnung zu kommen. Wollen wir das überhaupt? Wird nicht, wer mit offenen Augen, hellhörigen Ohren durch das Leben geht, auf Schritt und Tritt verletzt, schockiert, deprimiert, entmutigt? Unserer Gegenwart haften viele Etiketten an: schnelllebig sei sie, hektisch, laut, oberflächlich. Tatsächlich kann man, wenn man durch die Straßen geht oder den Fernseher einschaltet, dem Eindruck erliegen, die Welt bestünde nur noch aus Lärm, schriller Reklame und schlechten Nachrichten, die uns von Katastrophen, Terror und Elend berichten. Ist es da nicht viel angenehmer, seine Sinne zu verschließen, sich stumpf zu machen für das Grelle, für das Geschrei, die Aufdringlichkeit, aber auch für die Not anderer? Wer wollte schon in der ständigen Überforderung leben? Und überfordert sind wir, wenn wir uns tatsächlich mit offenen Sinnen und offenem Herzen dem Alltag stellen. So viel wäre zu tun, an so vielen Orten könnte man, müsste man anpacken. Die schiere Menge an Missständen, an anstehenden Aufgaben und drohenden Katastrophen jedoch lähmt uns. Weghören, wegsehen, nichts mehr von alldem wissen wollen – eine verständliche Reaktion. So verwundert es nicht, dass unter jungen Leuten ebenso wie unter älteren eine gewisse Gleichgültigkeit, eine sinnliche und emotionale Taubheit festzustellen ist. Sie zeugt von Überforderung, aber auch von Hoffnungslosigkeit: Wer absichtlich wegsieht, glaubt nicht mehr, dass er durch Hinsehen etwas verändern kann. Viele geben auf: den Kampf um die Welt, um die Zukunft – aber manchmal auch den Kampf um sich selbst. Wenn das Leben nur noch als Anstrengung, als Schmerz, als ständige Überforderung empfunden wird, wenn der Leidensdruck zu groß wird, ist der einfachste und naheliegendste Ausweg der in die Betäubung. Der Griff zur Flasche oder zu einem anderen Rauschmittel, das für Stunden die beklemmende Wirklichkeit ausblendet, ist kein Lausbubenstreich und kein Kavaliersdelikt. Für viele ist er allwöchentliches, gar tägliches Ritual. Dabei darf man sich nicht nur pöbelnde Jugendliche vorstellen, die sich Samstag für Samstag als „Kampftrinker“ ins Koma kippen. Jeder kennt die Herren mittleren Alters, die mit blutunterlaufenen Augen und geröteter Nase am Tresen lehnen. Weniger bekannt ist die Hausfrau, die im Verborgenen am Likör nippt, der Manager, der vor dem Meeting noch schnell eine aufmunternde Prise nimmt, der Arzt, der seine Bedrückung mit Tabletten behebt. Besinnungslosigkeit hat viele Gesichter. Patentrezepte für einen Ausweg gibt es nicht.
Feststeht jedoch: Der Ausstieg aus der Betäubung kann nur dann gelingen, wenn die Welt, in der man bestehen soll, als bewältigbar wahrgenommen wird. Mehr noch, man braucht die Gewissheit, dass es „da draußen“ mehr gibt als hochglänzende Seichtigkeit und lärmende Slogans, die sich über das Leid der Menschheit legen. Auch das hochwertigste Shampoo, die raffinierteste Praline oder die schönste Markenhose machen langfristig nicht glücklich, sosehr uns die Werbung das auch einreden will. Die Flucht in die Warenwelt der Kaufhäuser, in den Glamour der Prominenten oder den schönen Schein Hollywoods ist letztlich nur die weichgespülte Variante der Betäubung. Es braucht mehr, um wirklich zu sich zu kommen. Woraus aber kann man echten Lebenswert schöpfen, wenn man das Dasein als Abfolge von Zwängen wahrnimmt, in der kaum Spielräume für eigenständige Gestaltung bleiben? Der Wunsch, sich mitentscheidend einbringen zu können, wird nur allzu häufig enttäuscht. Als „kleine Frau“ oder „kleiner Mann“ erlebt man sich als Spielball der Mächtigen. Die Möglichkeit, wahrgenommen, angehört und berücksichtigt zu werden, ist eine sehr eingeschränkte. Zum Begriff der Besinnungslosigkeit gesellt sich nicht zufällig der Begriff der Ohnmacht. So verwundert es nicht, dass das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Respekt sich andere Wege sucht, Wege, die nicht selten in Gewalt münden – und diese ist nicht immer nach außen gerichtet. Der tyrannische Familienvater, die ehrgeizige Mutter, die magersüchtige Tochter, der rechtsradikale Sohn: Stereotype, die im Kern von beschädigten Menschen auf der Suche nach Selbstwert erzählen. Hier schließt sich der Teufelskreis: Nur, wer am lautesten schreit und am brutalsten zuschlägt, hat in einer besinnungslosen Umwelt überhaupt noch die Chance, wahrgenommen zu werden. Dadurch freilich dreht sich die Spirale der Reizüberflutung und der damit einhergehenden Abstumpfung immer schneller. Wer leise ist, wird links liegen gelassen und übergangen. Ein Miteinander aber, bei dem man sich anschreien muss, um überhaupt noch Gehör zu finden, ist auf Dauer unerträglich. Die Flucht in den Rausch jedoch ist ebenso zerstörerisch wie trügerisch: das böse (und mit der Zeit immer böser werdende) Erwachen bleibt nicht aus.
Das einzige, was der Ohnmacht entgegengesetzt werden kann, ist die Hoffnung. Was wie ein schwacher, wenn nicht gar billiger Trost klingt, ist so banal nicht: Nur aus der Hoffnung, etwas bewirken zu können, schöpfen wir die Kraft, tatsächlich etwas zu bewirken. Zu hoffen, selbst gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit, bedeutet, weder sich noch seine Mitmenschen aufzugeben. Die Hoffnung nämlich – und nur sie – gibt uns die Kraft zum Neuanfang, die wir täglich brauchen. So wird die Hoffnung zur Triebfeder der tätigen Lebensgestaltung: Sie hilft uns aus der Passivität hin zur aktiven Mitbestimmung im privaten wie auch gesellschaftlich-politischen Kreis. Damit aber die Hoffnung blühen kann, benötigen wir die Sensibilität für die kleinen Dinge – die Besinnung eben. Der polternde Zweckoptimismus der Werbung erschöpft sich zu rasch. Wer jedoch seinen Blick auf das scheinbar Selbstverständliche, Alltägliche richtet, kann darin den Keim für Lebensfreude und Zuversicht finden.
Wenn nun also die Weihnacht näher rückt, die Einkaufspassagen greller prangen, die Registrierkassen lauter klingeln, der Glühwein penetranter von den Christkindlmärkten herüberduftet und der Wunsch nach besinnungslosem „Augen zu und durch“ übermächtig wird, will ich dem einen anderen Wunsch entgegenhalten, einen Wunsch mit dem Beigeschmack von Stricknadeln, Waldeinsamkeit und Gestrigkeitsnostalgie: den Wunsch nach Innigkeit, den Wunsch, eins zu sein mit sich, den Wunsch, auch oder gerade diese Tage bei Sinnen zu erleben. Besinnliche Weihnachten – das kann weh tun, das kann verletzen. Aber nur, wer sein Herz öffnet, kann das Feine und Leise, das unauffällig Schöne und Beglückende wahrnehmen und zur Ruhe kommen. So weist die Besinnung uns den Weg, wie wir einander mit Geduld und Freundlichkeit begegnen können. Die Hoffnung lebt.