„Outis“, zu Deutsch „Niemand“, gab Odysseus zur Antwort, als ihn der Zyklop Polyphem nach seinem Namen fragte. Auf seiner Irrfahrt hatte sich Odysseus mit seinen Gefährten in Polyphems Höhle verirrt, nun waren sie eingeschlossen. In der Nacht blendeten sie den einäugigen Riesen, um fliehen zu können. Als der erblindete Polyphem um Hilfe rief, fragten ihn die anderen Zyklopen, wer ihm etwas zu Leid getan habe. „Niemand“, antwortete Polyphem, „Niemand hat mir etwas getan!“ Die anderen waren ratlos: Wie sollten sie gegen „niemanden“ vorgehen? Odysseus und seine Gefährten aber entkamen.
Immer wieder begegnen uns in den Mythen der Völker Geschichten über Tarnkappen oder Zaubermäntel, die ihre Träger unsichtbar machen. Auch die Namenlosigkeit, die Anonymität, ist eine solche Tarnkappe. Darin drückt sich der Wunsch aus, unbeobachtet zu sein, für einige Stunden dem engmaschigen Netz der Gemeinschaft zu entfliehen. In den kleinen sozialen Strukturen früherer Zeiten, wo jeder jeden kannte und alle über alle Bescheid wussten, war der Druck gesellschaftlicher Zwänge groß, man fühlte sich stets beobachtet und abgeurteilt. Nur selten konnte man die auferlegte Maske fallen lassen, oft zugunsten einer anderen: Feste wie Karneval erlaubten den Menschen, im Schutz der Narrenkappe authentischer zu sein als sonst.
Diese Zeiten sind vorbei. Mit der allmählichen Ablösung der ländlichen durch eine urbane Gesellschaft ist eine wachsende Anonymität einhergegangen, die auch heute noch viele, die etwa aus kleinen Dörfern in die Großstadt ziehen, als befreiend erleben.
Wer in einem der großen Mietblöcke wohnt, kennt oft kaum die Gesichter oder Namen seiner Nachbarn, geschweige denn deren Beruf. Man lebt nebeneinander her, froh, unbehelligt zu sein. Im hektischen Gedränge der Straßen, aber auch in öffentlichen Verkehrsmitteln ist es längst nicht mehr üblich, einander zu grüßen, jeder geht seiner Wege, ohne die anderen anzusehen. Immer wieder hört man von Menschen, deren einsamer Tod in ihren Wohnungen oft tage-, ja wochenlang unbemerkt blieb, liest von misshandelten Kindern, die jahrelang von Eltern oder Verwandten gequält werden, ohne dass Nachbarn etwas davon mitbekommen.
„Outis“ – jeder von uns ist ein Niemand geworden, eine verwischte Gestalt in der Menge, austauschbar und unbedeutend. Wer es nicht schafft, sich eigenständig ein Sicherheitsnetz von Freunden und Verwandten aufzubauen, fällt durch den Rost. Das ist eine bittere Erkenntnis, die dem Einzelnen eine große Verantwortung für sein Leben auflastet. Gerade Jugendliche fühlen sich mit dieser Verantwortung oft überfordert, vor allem solche, die aus niederen sozialen Schichten stammen. In vielen Fällen erhalten sie nicht einmal von ihren Eltern die nötige Unterstützung, werden allein gelassen mit ihren Ängsten und Sorgen. Der Traum von der befreienden Tarnkappe ist für diese Kinder und Jugendlichen längst zum Alptraum geworden. In einer Gesellschaft, wo jeder auf sich selbst schauen muss, werden sie nicht mehr wahrgenommen. Kaum einer kennt ihre Namen, interessiert sich für ihre Geschichten. Höchstens idealistische Streetworker und überforderte Lehrer schlagen sich noch berufsbedingt mit Teenagern herum, deren Eltern kaum Zeit für sie haben und die selbst mit scheinbar ständig gelangweilten Gesichtern alles an sich abprallen lassen. Dabei sehnen auch sie sich nach dem, was sich alle wünschen: Respekt und Anerkennung. Sie wollen ernst genommen, zumindest aber wahrgenommen werden. Gerade dies ist aber schwierig geworden in einer Welt, die ihnen keinen Platz, vor allem aber keine Zukunft zu bieten scheint. Im Alltag der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft ist sich jeder selbst der Nächste. Menschen werden meist an ihrem Status, ihrem Erfolg gemessen. Wer hier Mühe hat mitzuhalten, bleibt eben auf der Strecke. Schon Kindern sind diese Zusammenhänge klar, und so versuchen sie Strategien zu finden, um sich gesellschaftlich zu positionieren. Dabei orientieren sie sich hauptsächlich an dem, was als „cool“ gilt, und beziehen ihre Identifikationsfiguren nicht unbedingt aus dem wirklichen Leben: In rasanten Werbespots, blutigen Actionfilmen oder seichten Soaps sehen sie verwirklicht, wovon sie träumen. Dort allerdings herrschen noch immer tradierte Rollenbilder vor, die in der heutigen Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Die „Helden“ sind häufig noch immer strahlende Einzelkämpfer, die ihre Probleme entweder mit dem richtigen Outfit oder einem gezielten Handgranatenwurf lösen (meist mit beidem). Sozialkompetenzen und kommunikative Strategien hingegen spielen meist keine Rolle. Kein Wunder, dass es hauptsächlich junge Männer sind, die mit solchen Vorbildern in einen Teufelskreis aus Ausgrenzung und Kleinkriminalität geraten. Dabei steht am Anfang meist der Versuch, sich in eine bestimmte Gruppe zu integrieren, um dort die fehlende Akzeptanz und Geborgenheit zu erfahren.
In harmloseren Varianten versuchen die Jugendlichen, sich über Konsum zu profilieren: Teure Markenkleidung und technisch hochgerüstete Handys gehören zum Standard. Nicht immer reicht das Geld dafür. Doch wer sich im Schutz der Anonymität weiß, hat oft auch weniger Hemmungen, sich ungesehen selbst zu bedienen.
Problematisch wird es, wenn Gewalt ins Spiel kommt, wenn etwa rivalisierende Gruppen aneinander geraten. Da fliegen nicht immer nur die Fäuste. Gerade in jüngster Zeit ist ein Trend zu noch aggressiveren Auseinandersetzungen, bei denen es auch zu Messerstechereien kommen kann, festzustellen.
Als Ausweg aus dieser Spirale der Isolation und zunehmenden Radikalisierung werden oft die Verschärfung des Jugendstrafrechts oder Verbote von sogenannten „Killerspielen“ aus dem Hut gezaubert. Mit Droh- und Verbotsszenarien allein ist dem Problem aber nicht beizukommen, ganz im Gegenteil, gerade durch sie könnten sich die Jugendlichen noch mehr in eine Ecke gedrängt, stigmatisiert und allein gelassen fühlen. Eine andere Möglichkeit wäre, gegen die Namenlosigkeit vorzugehen, den Jugendlichen ein Gesicht, eine Stimme zu verleihen. Ansätze dazu gibt es durchaus, doch meist bleiben diese Sache der Schulen oder einschlägigen Einrichtungen. Wichtig ist es jedoch, das Problem gesellschaftlich zu thematisieren und die Anonymisierung mit den einzigen langfristig wirksamen Waffen zu bekämpfen: Solidarität und Empathie. Nur mit ihnen kann die Odyssee der Jugend ein gutes Ende nehmen.