Vorbemerkung
„Was macht eigentlich eine Stadtschreiberin?“ In den zwei Monaten, die ich in Kitzbühel verbringen durfte, war das die häufigste Frage, die mir gestellt wurde. Stets hat sie mich in eine gewisse Verlegenheit gebracht. Ja, was mache ich hier eigentlich? Im Grunde nichts anderes als sonst auch: zuhören, beobachten, fotografieren, schlafen, kochen, essen, trinken, lesen, Leute treffen. Und schreiben. Und dass natürlich mein Schreiben von meiner Umgebung beeinflusst wird, liegt auf der Hand. Es war also eine Art Experiment: Schreibe ich durch meinen Aufenthalt in Kitzbühel anders? Eines ist klar: Der Perspektivenwechsel hat mir gut getan, und vieles von dem, was ich erleben durfte (und teilweise musste) hat sich bereits in verschiedenen Texten niedergeschlagen – und auch für die Zukunft steht zu befürchten, dass sich die eine oder andere Kitzbüheler Episode noch in irgendeiner Form verewigen wird. Das alles aber ist ein Nebeneffekt der Stadtschreiberei und nicht ein damit verbundener Auftrag. Solche gab es freilich auch, und einer davon besteht darin, über die Stadt einen Essay zu schreiben. Essay, das Wort kommt aus dem Französischen und bedeutet „Versuch“, das ist ein vorsichtiges Herantasten an ein Thema, eine gedankliche Umzingelung. Von so vielen Seiten wie möglich soll man den Gegenstand seiner Betrachtungen beleuchten, um zum Schluss ein möglichst vollständiges Bild abgeben zu können. Nun, ich will den „Versuch“ also wagen. Meine kleine Taschenlampe liegt bereit, Eimerchen, Schaufel und Hacke ebenfalls, und ab geht es – in die Türkei.
Die Schichten des Bühels
Eines der wichtigsten Epen der Antike, die Ilias, erzählt vom Heldenkrieg um die sagenumwobene Stadt Troja, bei dem die größten und berühmtesten Recken aufeinandertrafen und sich denkwürdige Duelle lieferten. Der (natürlich ebenfalls sagenumwobene) Autor der Ilias, Homer, beschreibt die Stadt und ihre Einwohner so plastisch, dass Troja weit über die antike Welt hinaus zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses wurde. Erst im 19. Jahrhundert jedoch machte man sich ernsthaft daran, die im Nebel der Geschichte versunkene Stadt zu suchen. Es waren zuerst britische Forscher und dann vor allem der deutsche Hobby-Archäologe Heinrich Schliemann, die Troja schließlich unter dem türkischen Hügel Hisarlık mutmaßten und dort mit eingehenden Grabungen begannen. Tatsächlich waren die Ausgrabungen erfolgreich. Allerdings wurde nicht nur ein Troja entdeckt, sondern gleich mehrere: Letztendlich fanden sich mehr als zehn Siedlungsschichten, die in über vierzig Feinschichten unterteilt werden (die dann so klingende Namen wie „Troja VIIb1“ tragen). Der Streit, in welcher dieser Schichten sich das „wahre“, also das von Homer besungene Troja verberge, dauert bis heute an.
Die mythischen Stätten der Gegenwart tragen andere Namen. New York lautet einer, ein anderer Paris, wieder andere heißen Saint-Tropez, Monaco, St. Moritz, wohin es die schillernden Helden unserer Zeit eben so zieht. Auch im Herzen der Tiroler Alpen liegt ein solch „sagenhafter“ Ort, Kitzbühel, der vielen als Inbegriff der Wintersport-Schickeria und des teuren Trachtenglamours gilt. Zwei Monate lang hatte ich die Gelegenheit, als Freizeit-Kitzologin am glänzenden Lack zu kratzen und mir mein eigenes Bild vom Gamsberg zu machen. Die erste Erkenntnis ist ebenso banal wie wesentlich: Wie Troja liegt auch Kitzbühel auf einem Hügel, und wie Troja besteht es nicht aus einer einzigen Schicht, vielmehr liegen viele Schichten neben- und übereinandergelagert. Einige davon konnte ich mit meiner kleinen Spielzeugschaufel angraben, andere sind mir verborgen geblieben. Im vorliegenden Text will ich versuchen, mich noch einmal durch die verschiedenen „Bühel“ zu wühlen, die ich vorgefunden habe.
Kitz I
Am sichtbarsten und auffälligsten Kitz I, das ich noch gar nicht zu den richtigen Schichten zählen möchte. Wie eine dünne Gummihaut, eine Art zu enge Badehaube, legt es sich auf die Stadt: Es ist das Marken-Kitzbühel, das mit seinem Alfons Walde-Gams-Logo suggeriert, dass Kitzbühel etwas sei, das man ebenso wie eine Gucci-Brille oder Prada-Handtasche kaufen könne. An diversen Häusern angebracht, scheint das Logo zu sagen: „Hier drinnen finden Sie Kitzbühel“, und ein Bierdeckel behauptet gar, man könne Kitzbühel trinken. Von diesem kauf- und trinkbaren Kitzbühel kann ich wenig berichten; es war weder mein Wunsch noch mein Auftrag, die Stadt zu „konsumieren“, wie es vielleicht andere tun. Es steht zu befürchten, dass für diese das Konsumgut Kitzbühel ebenso austauschbarer Mode- und Wegwerfartikel ist wie andere Konsumgüter auch.
Im Zusammenhang mit Konsum-Kitz bin ich auch auf jene Schichten gestoßen, die mir am fremdesten geblieben sind und von denen ich fast nur vom Hörensagen weiß, nämlich Kitschbühel, Protzbühel, Besitzbühel, Klotzbühel und letztlich Zweitwohnsitzbühel. Für viele, mit denen ich geredet habe, sind diese Schichten offenbar die augenfälligsten und das, was sie zuerst mit der Stadt in Verbindung bringen. Es mag auch daran liegen, dass Oktober und November beileibe nicht die Monate sind, in denen man die Schickeria, die Pelzmantelträger, die A-, B- und Möchtegern-Promis antrifft, aber für mich spielte und spielt dieser Hochglanz-Aspekt kaum eine Rolle. Sicher, die Auslagen der Schaufenster erzählten mir von kaufkräftigen Kunden, die für so absurde Kleidungsstücke wie ein Leoparden-Kropfband Hunderte von Euros auszugeben bereit zu sein scheinen, und die ebenso rustikalen wie „schmächtigen“ Alt-Tiroler Bauernhäuser, die an den sonnigen Hängen der Stadt neu gebaut werden, ließen deutlich erkennen, dass hier nicht gekleckert wird. Aber als gebürtige Untervinschgerin, die fast ihr ganzes Leben in Meran und Umgebung verbracht hat, bin ich das gewohnt: Es gibt eben Nordtiroler, Osttiroler, Südtiroler, Welschtiroler und Geldtiroler. Die ersten vier (ich nenne sie „Tiroler alten Typs“) eint ihre Herkunft aus einer genau definierten geographischen Region, während sie ansonsten völlig heterogen sind. Die Letztgenannten („Tiroler neuen Typs“) hingegen eint ihr Wille, sich in diese genau definierte geographische Region hineinzuträumen und sich dafür in einer lodentrachtigen Verkleidung zu homogenisieren. Die Tiroler alten Typs stellen ihnen dazu ein kleines Tyrol-Phantasia-Land zur Verfügung. Im Tyrol-Phantasia-Land ist noch alles wie in der guten alten Zeit, die es nie gegeben hat. In diesen Kulissen, denen man Gips und Plastik kaum ansieht, kann der Geldtiroler seine Raubtier-Dirndln ausführen, hier schaut ihm der Swarovski-Kristallhirsch aufs bäuerlich-schlichte Acht-Gänge-Menü, hier legt er sich schlafen, als wäre es auf seidenweichem Stroh, während im Eck in ewiger Frische die Wachsblume blüht. Das ist nichts Neues für mich, und Kitzbühel hat mich in dieser Hinsicht zwar manchmal etwas erstaunt, aber doch nicht schockiert. Die Segnungen des Tourismus sind hinlänglich bekannt, ebenso bekannt die Bereitschaft des Tirolers zu folkloristischer Maskerade, wenn es denn sein muss. Von den einen als Prostitution beklagt, von den anderen als notwendiges Übel gesehen, behauptet sich die alpenländische Spielart von Disney-Land nach wie vor als Verkaufsschlager. Als Tirolerin alten Typs kann ich mich damit zwar nach wie vor nicht identifizieren, aber ich tröste mich damit, dass ich das auch gar nicht muss. Eines hat mich freilich nachdenklich gemacht, und zwar das Verhältnis der Alt-Tiroler zu den Geld-Tirolern. Vom Reichtum und seiner Macht geblendet, scheint keiner mehr jene Fragen zu stellen, die sich mir als erste aufdrängen: Woher kommt all das Geld? Aus welchen Geschäften stammen die Millionen, mit denen man mit dicken Mauern umbunkerte Prachtbauten aus dem Kitzbüheler Grund stampfen kann? Sicher, an den Schecks und Scheinen klebt kein Blut, kein sichtbares jedenfalls. Und was kümmert den Konsum-Tiroler das Unsichtbare.
Sehr viel beliebter ist das leichter Be- und Ergreifbare, das Augenscheinliche, das keine weiten Interpretationsspielräume bietet, die auszuloten letztlich doch zu anstrengend sein könnte. Insofern ist die Neigung des Tirolers zum Sport eine naheliegende: Hier kann klar gemessen und gezählt werden, der Bessere gewinnt, und hinterher darf man, ob Sieger, ob Verlierer, ausgelassen feiern. Kein Wunder also, dass eine weitere Schicht, die sehr leicht zu entdecken war, „Flitzbühel“ war.
Kitz II
Mitten im Winter wird die Kulisse noch einmal verschärft: Auf dem Hahnenkamm trifft sich der Jet-Set zum Gesehenwerden, während im Hintergrund gestählte Sportlerkörper auf schnellen Brettern zu Tal rasen. Persönlich bin ich nicht Zeugin des unbestrittenen Höhepunkts des Jahres geworden, weswegen ich kein gültiges Urteil darüber abgeben kann. Zur kontroversen Diskussion, die ich am Rande mitbekommen habe, kann ich nur folgendes beisteuern: Auf Dauer nützt es nichts, sich an Hirschhornknöpfen und rollenden Rubeln die Zähne auszubeißen. Für viel sinnvoller halte ich es, am Entwurf einer Gegenwelt mitzuarbeiten, die für mich und meine Gesinnungsgenossen lebens- und liebenswert ist.
Ich habe bemerkt, dass es auch in Kitzbühel Menschen gibt, die sehr ähnlich denken. Und das ist etwas, was bei aller berechtigten Kritik doch hervorgehoben werden muss: Die meisten Kitzbüheler lieben ihre Stadt, und sie legen sich mächtig für sie ins Zeug. Damit etwa bei einem Großereignis wie dem Hahnenkammrennen alles wie geölt läuft, müssen im Hintergrund viele große und kleine Rädchen ineinandergreifen. Hier wird von den Organisatoren eine Leistung erbracht, die nicht unterschätzt werden darf. Unschwer erkannte ich daher neben Flitzbühel auch Schwitzbühel: Alles, was die Stadt zu bieten hat, gründet auf dem Fleiß und der Tüchtigkeit einiger Unermüdlicher, die sich Neues einfallen lassen, um Kitzbühels Attraktivität und Gastlichkeit zu bewahren oder gar aufzuwerten. Ich selbst habe das am eigenen Leibe erfahren, denn auch für mich (oder, weitergefasst, für das Projekt „Stadtschreiber“) ist im Hintergrund viel geflitzt und geschwitzt worden. Hier hat sich die weit über die Landesgrenzen berühmte Tiroler Gastlichkeit von ihrer schönsten Seite gezeigt: Man ist mir durchwegs mit Neugier und Herzlichkeit begegnet, und nie hatte ich den Eindruck, als Südtirolerin „Ausländerin“ zu sein, ganz im Gegenteil: Die Bande, die Kitzbühel mit meiner Heimat verbinden, sind nach wie vor spürbar, was es mir sehr erleichtert hat, mich rasch in Kitzbühel einzuleben.
Kitz II also, das gastliche Kitzbühel, liegt gleich unter dem glamourösen Kitz I, und das hat durchaus seinen Grund: Es sind nicht der Prunk und Glanz prominenter (Wahl-)Kitzbüheler oder die klingenden Namen der Großereignisse allein, welche Besucher aus aller Welt anziehen. Es ist vor allem die offene Atmosphäre der Gastfreundschaft, das anheimelnde Gefühl, willkommen zu sein, die einen Sehnsuchtsort vom bloßen Tourismusziel unterscheidet. Ob Kabarettherbst-Witzbühel oder Hansis Hitsbühel: Entscheidend ist vor allem das, was man nicht für Geld bekommen kann. Erkauften Komfort, entlöhntes Zuvorkommen kann man überall auf der Welt finden; ein „Star zum Anfassen“, der sich so lange die Finger wund schreibt, bis auch der letzte Fan sein Autogramm ans Herz drücken kann, ist unbezahlbar. Es sind die kleinen Dinge: ein nettes Lächeln der Kellnerin, ein Gruß auf der Straße. Und es sind die ganz großen: die atemberaubende Bergkulisse, das satte Blau des Himmels und die Sonne darin. Über all das lässt sich nicht die Markenhaube des Gamslogos stülpen, hier schweigt die Macht des Geldes. Und nur hier findet man einen Ankerplatz für sein Herz.
Kitz III
Je tiefer man sich in die Schichten der Stadt gräbt, umso mehr entdeckt man sie als Lebensraum im wörtlichsten Sinne. Abseits der Eventkultur und Schickeria liegt Kitz III als Substrat des scheinbar Alltäglichen und Banalen. Es ist das Kitzbühel der Einheimischen, also derjenigen, die hier leben und arbeiten. Hier stellt sich die große Herausforderung eines jeden Tourismusortes: Dem Einheimischen noch zusätzlich etwas zu bieten, was sich nicht „nebenbei“ für den Gast „mitverwenden“ lässt. Wer in einer Gegend wohnt, in der andere Urlaub machen, hat den Vorteil, dass er direkt vor Ort hat, wofür anderen hunderte, gar tausende Kilometer Anreise auf sich nehmen müssen. So weit, so gut. Leider jedoch gibt es zwei Nachteile: Erstens kann es sich nicht jeder leisten, am großen Kuchen mitzunaschen; für ihn bleiben die Events genauso weit entfernt wie für alle anderen, die nicht in der Stadt sind. Zweitens gibt es auch ein Leben jenseits der „Saison“. Durch meinen Aufenthalt während der „toten Zeit“ konnte ich doch einen gewissen Eindruck von diesem Leben gewinnen. Viele Lokale waren geschlossen, die Lifte stellten ihren Betrieb ein, im Kino, das ich manchmal besucht habe, waren wir meist höchstens zu fünft – die Stadt befand sich im „Stand by“-Modus. Nun ist mir ein solcher saisonaler „Durchhänger“ eigentlich recht sympathisch, ich mag das verlangsamte Tempo und die Überschaubarkeit, beides wichtige Gegenpole zum immer rasanteren Wirbeln unserer multimedialen Zeit. Hier also konnte ich die Rückseite der Medaille sehen, konnte feststellen, was den Kitzbühelern für sich selbst wichtig ist, was sie nicht als einladende Fassade für andere aufputzen. Und tatsächlich: Auch in den Wochen des relativen Stillstands bewegt sich einiges, und die für eine Stadt dieser Größe wirklich bemerkenswert vielfältigen Kitzbüheler Medien haben immer genug Material, um ihre Seiten oder die Sendezeit zu füllen. Da wird Sport getrieben, da proben die Chöre, zum Tanz wird geladen oder zur Diskussion, und zwischendurch wird ein Geschäft neueröffnet. Der Alltag kennt keine Zwischensaisonen. Es ist ein Arbeitsalltag, ein Vereinsalltag, der Alltag der Stammtischrunden und Schlussverkäufe. Hier wird das Klima nun beinahe familiär, fast nach dem Motto: Wir sind unter uns, wir kennen einander, und auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, halten wir uns gegenseitig und unserer Stadt letztlich doch die Stange. Natürlich heißt das nicht, dass allseits nur eitel Harmonie und Sonnenschein herrschen; wie überall gibt es auch hier die großen und kleinen Intrigen, Sticheleien, Antipathien, und auf diese mit dem Finger zu zeigen, steht weder mir noch anderen Außenstehenden zu.
Wobei das mit dem Finger nicht immer so einfach ist. Ein ungeschickter Stolperer hat mir die unverhoffte Gelegenheit gegeben, noch einen weiteren Aspekt von „Kitz III“ kennenzulernen: Gipsbühel. Hier konnte ich die Vorzüge der ruhigen Zeit besonders deutlich erleben: Während sich in der Wintersportsaison dutzende Verletzte mit gebrochenen Knochen in den Warteräumen des Krankenhauses drängen, hatte ich das Glück, gleich dranzukommen und ohne lange Verzögerung betreut zu werden. Ich war beeindruckt, wie schnell und reibungslos alles vonstatten ging, die Atmosphäre war freundlich und auch die Nachuntersuchungen wurden ernst genommen. Als ich hörte, dass das Krankenhaus geschlossen werden soll, konnte ich das Bedauern darüber nachvollziehen. Es ist doch beruhigend, eine solche Einrichtung in der nahen Umgebung zu wissen, nicht nur, wenn es auf der Streif wieder einmal zu einem hässlichen Sturz kommt. Aber selbst, wenn das Krankenhaus bald der Vergangenheit angehören sollte: Gipsbühel wird weiterbestehen und sich jedes Jahr wieder gerade im Winter zu voller Blüte entfalten.
Und noch etwas Zukunftsträchtiges habe ich in Kitz gefunden: „Kid’s Bühel“, also die Stadt der Kinder und Jugendlichen, die hier aufwachsen. Ich hatte die Gelegenheit, die Volksschule, die Hauptschule und die Handelsakademie zu besuchen. Da ich selbst einige Jahre als Lehrerin gearbeitet und dabei (leider) von sehr gut bis sehr schlecht funktionierenden Schulen so ziemlich alles gesehen habe, war ich hier besonders (an)gespannt. Umso schöner war es, zu erleben, mit wie viel Kreativität und Engagement in den Schulen gearbeitet wird. Hier wird nicht nur „Dienst nach Vorschrift“ abgeleistet, nein, den Schülern wird mehr geboten, ob es nun um gesunde Ernährung, eine Grusel-Nacht oder ein anderes Projekt geht (zum Beispiel um den Besuch der aktuellen Stadtschreiberin...). Auch oder gerade so kann sich eine Stadt für die Herausforderungen der Zukunft rüsten.
Also alles eitel Sonnenschein? Ich gebe es zu: Ich war gerne in dieser Stadt, egal, ob ich auf dem Friedhof auf die Pirsch nach Engeln gegangen bin, ob ich mit dem unverwüstlichen Peggo, der als Faktotum eine Kitzbüheler „Instanz“ ist, den Kirchturm erklommen oder ob ich am Ende des Tages mein Kitz-Gedicht als Resümee in den Laptop getippt habe. Es war eine schöne Zeit, und viele Menschen haben dazu beigetragen, dass ich mich wohlgefühlt und die Schokoladenseiten zu sehen bekommen habe. Auch deswegen kann ich nicht über den kritischen Standpunkt eines Einheimischen verfügen, der einen unverstellteren Einblick in das Stadtleben erhält. Dennoch gibt es einen Punkt, den ich nicht verschweigen möchte, da er mich etwas erstaunt hat, vielleicht auch aufgrund meiner Unwissenheit über die Nordtiroler Gepflogenheiten. In Südtirol ist die Pflege der „deutschen“ Kultur und Sprache ein häufig deklariertes „Herzensanliegen“ der Politik. Das treibt mitunter kuriose Blüten und ist alles andere als unproblematisch (doch das zu erörtern, würde zu weit führen). Die Einrichtung kleinerer und größerer kultureller Zentren in den Dörfern und Städten des Landes wurde daher stark vorangetrieben. Diese Zentren sind in erster Linie öffentliche Bibliotheken, die einen starken kulturellen Auftrag haben und vom Land finanziert werden. Selbst ein 600-Seelendorf wie das Dorf meiner Kindheit, Plaus, verfügt neben der Schulbibliothek über eine relativ gut sortierte öffentliche Bibliothek, in der man Bücher und CDs ausleihen kann. Im Nachbardorf Naturns, das gerade einmal vier Kilometer von Plaus entfernt ist und eine Einwohnerzahl von etwa 5.000 aufweist, ist die öffentliche Bibliothek in einem eigenen dreistöckigen Gebäude untergebracht. Neben Büchern in deutscher und italienischer Sprache gibt es aktuelle Zeitschriften, Hörbücher, Musik-CDs, DVDs, es gibt eine Literatur-Abteilung mit vielen Neuerscheinungen, aber auch die Sparten Geschichte, Geographie, Haushalt (mit vielen Koch- und Bastelbüchern), und in der Kinderabteilung gibt es (wie in Plaus übrigens auch) eine kleine Spielecke mit Plüschtieren und Gesellschaftsspielen (letztere kann man auch ausleihen). Zusätzlich organisiert die Bibliothek das ganze Jahr hindurch Lesungen, Buchvorstellungen, Fortbildungen, Spielenachmittage usw. Um diese reichhaltige Angebot nutzen zu können, braucht man lediglich einen Mitgliedsausweis, den man kostenlos erhält. Das Einzige, was man bezahlen muss, ist die Nutzung des Internetanschlusses – und eventuelle Strafgebühren, wenn man die Medien zu spät zurückbringt. Dadurch tragen die Bibliotheken sehr viel zum kulturellen Leben in unserem Land bei und aus diesem Grund sind sie Referenzpunkte für mich: Wo immer ich war, habe ich mich sofort mit den Bibliotheken vertraut gemacht; ich betrachte sie als stille Gradmesser des Stellenwerts, den die Kultur an einem Ort besitzt – mögen wir auch noch so medial vernetzt sein, das Buch bleibt auch heute noch ein wichtiger Geschichtenerzähler und Lehrmeister. Um die Bibliothek in Kitzbühel zu finden, musste ich nicht weit gehen: Sie ist im Kolpinghaus untergebracht, das offenbar die prädestinierte Klause für das literarische Leben ist. Geöffnet ist sie dreimal in der Woche von 15 – 18h, und ihre Fläche erstreckt sich auf gerade einmal zwei Zimmer. Dass man dabei nicht große Sprünge machen kann, liegt auf der Hand. Zudem kostet die Entlehnung 80 Cent pro Buch, was nicht gerade dazu motiviert, beherzt zuzugreifen (es ist in Südtirol, aber auch in der Schweiz durchaus nicht unüblich, dass man sich auch mal bis zu 10 Bücher auf einmal mitnimmt, um sie zu Hause nach Herzenslust durchzustöbern). Wann immer ich in die Bibliothek gekommen bin, war sie fast ausgestorben. Vereinzelte haben sich zwar durchaus hierher verirrt, doch von den langen Schlangen, die sich etwa in Naturns an der Theke bilden, war nichts zu sehen. Ganz offenkundig findet das kulturelle Leben der Kitzbüheler anderswo statt. Wo? Ist es denkbar, dass sich die Leute die Bücher lieber kaufen, anstatt sie auszuleihen? Oder verschiebt sich der Schwerpunkt, sobald man aus der Schule draußen ist? Die Schulen nämlich, das habe ich bei meinen Besuchen mitbekommen, verfügen auch über nett eingerichtete Bibliotheken – freilich „nur“ für Schüler. Wie gesagt, es mag an meiner Unwissenheit liegen oder daran, dass ich schlicht die Bedeutung einer reichhaltigen Bibliothek überschätze, aber hier sah ich doch einen gewissen Wermutstropfen.
Warum dieser kritische Ton zum Schluss? Ich zolle mit ihm zwei letzten Schichten Tribut, die ebenfalls unabdingbar zu der Stadt gehören: Da ist einerseits Motzbühel, wo gemotzt und gemeckert wird – zu recht oder auch zu unrecht. Die Kritiker und „Nestbeschmutzer“, die oft als unangenehme Zeitgenossen, als Querdenker wahrgenommen werden, sind in Wirklichkeit wesentliche Zutat einer „gesunden“ Gemeinde. Sie mögen mit ihren Giftpfeilen manchmal über das Ziel hinausschießen, trotzdem tragen sie zu einer stetigen Auseinandersetzung, zu einer Hinterfragung des Status quo bei, ohne die eine Weiterentwicklung unmöglich ist. Und so findet sich zum Schluss tatsächlich in dieser klischeehaft als Skilehrer- und Jet-Set-Location kategorisierten, in dieser schillernden und sportvernarrten, in dieser so häufig gut maskierten Stadt noch eine weitere Schicht tief unter der glänzenden Oberfläche. Es ist die Schicht der Tiefschürfenden und Nachdenklichen, die Schicht der Gewitzten und Kreativen: Gripsbühel. Sie mag nicht auf den ersten Blick ersichtlich sein und im Verborgenen wirken, doch aus ihr sprudelt der Quell der Erneuerung.
Epilog
Wie, das war alles? Fehlt da nicht noch was? Aber sicher.
Die Kitzologie – viele Kitzbüheler werden es wissen – ist eine Lebensaufgabe und kann nicht in wenigen Wochen abgeschlossen werden. Ich überlasse meine Aufzeichnungen über die Schichten des Hügels anderen, die weiterforschen und noch tiefer graben können. Mein eigener Rahmen ist leider begrenzt, und es ergeht mir mit diesem Text ein bisschen so, wie es mir beim Abschied von Kitzbühel ergangen ist: Ich konnte nach zwei Monaten fast nicht glauben, dass die Zeit schon um war. So vieles hätte ich noch sehen, so vieles noch miterleben wollen. Aber es half ja nichts, es musste ein Ende haben. Als ich abreiste, hatte ich im Gepäck viele Eindrücke, die ich mit meiner Spielzeug-Forschungsausrüstung eingefangen habe. An einigen Schichten der Stadt habe ich gekratzt und ein paar Brösel davon in meinen kleinen Eimer gesammelt. Dort stehen sie nun, zu einem fruchtbaren Humus für eigenwillige Pflänzchen zusammengemischt. Ich bin gespannt, was hieraus noch entstehen wird.
Eines aber ist sicher: Früher oder später wird es mich wieder nach Kitzbühel ziehen: Zum einen, um Nachschub für mein Ideengewächshaus zu holen. Zum anderen, um nachzusehen, ob der kleine Teil meines Herzens noch da ist, den ich bei meiner Abreise am Fuße des Bühels zurückgelassen habe.
Ich freue mich schon.