Gutmenschen sind out. Niemand will sich mehr mit diesem Titel schimpfen lassen. Die Anrede „du Gutmensch“ ist mittlerweile fast schon ein Klagegrund. Ein Gutmensch, das wissen wir, ist einer, der zwar ständig politisch korrekt redet (und die „political correctness“ ist ja auch schon längst von vorgestern), in Wirklichkeit aber gar nichts tut. Er sagt dann vielleicht, er bedauere die notwendigen humanitären Interventionen weltweit. Aber er engagiert sich nicht gegen die globalen Kriege. Er sagt vielleicht, er begrüße kritische Wortmeldungen und pflege einen konstruktiven Umgang mit seinen Gegnern. Dann aber tut er trotzdem, was er will. So ist es kein Wunder, dass wir Gutmenschen satt haben. Die machen die Welt auch nicht besser. Ich hingegen bin da schon einen Schritt weiter. Oder genauer: einen Klick. Als moderne Frau gebe ich nichts auf die hohlen Floskeln einer schönfärberischen Rhetorik. Ich verlasse mich auf die Macht der Masse. Konkret: auf das Internet. Nur dort spielen sich die wahren Revolutionen ab. Allein heute Morgen habe ich in fünf brisanten Angelegenheiten Partei ergriffen. Mit meiner machtvollen Stimme habe ich gegen die Ungleichbehandlung von Frauen in der Berufswelt, gegen die Verfolgung Homosexueller in Uganda, gegen Pelztierhaltung am Kaukasus, gegen den Bau eines Staudamms in China und gegen den Bürgerkrieg in Syrien protestiert. Und wenn ich noch ein paar Minuten länger Zeit gehabt hätte, hätte ich noch ein paar weitere Petitionen unterschreiben können. Geht ja ganz schnell und unkompliziert. Und dann ändert sich der Lauf der Dinge. Davon hört man ja immer wieder: Die weltweiten Proteste gegen XY haben die Regierung veranlasst, das Projekt auf Eis zu legen. Oder: Durch den massiven Druck der internationalen Öffentlichkeit ist die inhaftierte Oppositionelle freigelassen worden. Und ich war mit dabei! Die schieren Zahlen sind schon beeindruckend: fünf Millionen gegen Atomkraft. Wenn man sich das mal vorstellt. Wenn die alle auf die Straße gehen würden. Da wär was los, aber hallo! Also nicht, dass ich das jetzt konkret tun würde: auf die Straße gehen. Doch nicht für … was war es noch gleich? Es reicht doch, wenn ich virtuell mitklicke. Und mal einen Link teile. Mit sehr viel englischem Text, den ich ehrlich gesagt nicht ganz bis zum Ende durchgelesen habe. Ich meine, wer hat schon so viel Zeit, heutzutage. Wo wir uns doch für so vieles einsetzen müssen. Die Welt will gerettet werden. Ständig. Da könnte ich mich doch nie mit allen Kleinigkeiten einer einzigen Kampagne befassen. Wenn’s hoch kommt, gönne ich mir ein dreiminütiges Informationsvideo. Bitte mit schöner Musik unterlegt und mit traurigen kleinen Kindern, damit es mich auch wirklich anspricht. Dann vergebe ich das Wertvollste, was ich zu vergeben habe: ein „gefällt mir“, das von Herzen kommt. Wer auf mein Profil schaut, der sieht es gleich: Ich bin eine vielbeschäftigte Frau mit Tausenden von Anliegen. Überall bin ich ein bisschen dabei, überall bin ich ein bisschen dafür. Oder dagegen. Ich helfe bei der Massenbildung. Damit meine ich nicht, dass ich dafür sorge, dass die Masse intellektuell gebildet wird. Sondern: zahlenmäßig. Das ist ein wichtiger demokratischer Prozess: hier wird Überzeugungskraft durch das Gewicht das Volkes hergestellt. Wortwörtlich. Wenn man uns nämlich alle auf eine Waagschale legen würde, wäre das ein buchstäblich schwerwiegendes Argument, das sich nicht einfach wegdiskutieren ließe. Überhaupt wäre jegliche Diskussion dann sowieso schon überflüssig. So viele Menschen können sich nicht irren. Damit sind wir übrigens auch wieder beim Anfang, nämlich bei den Gutmenschen. Die reden ja nur dauernd. Wir hingegen reden nie. Wir „liken“. Wir „voten“. Wir „sharen“ und wir „supporten“. Aber reden – wer braucht das? Wenn kritisch argumentiert und abgewogen wird, wenn Pro und Contra hin- und hergehen – wie, wann und wo bitteschön soll man dann auf „Daumen hoch“ klicken? Also entweder, die Sache ist glasklar und eindeutig einordenbar, oder wir lassen das Ganze. Für so was hab ich keine Zeit. Es warten noch zahllose Anliegen, Petitionen, Kettenbriefe, Protestaufrufe und Shitstorms auf mich, an denen ich mich beteiligen muss. Ja, so sind wir eben, wir Menschen der Tat. Nicht lange überlegen, beherzt zupacken, lautet unsere Devise. Hü oder hott, aber flott. Und jetzt stelle ich diesen Text auf Facebook. Und Sie drücken dann gefälligst „gefällt mir“. Egal, ob Sie ihn gelesen haben oder nicht.
