Wenn Sie das hier lesen, sind Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine Frau. Kunstinteressiert, kommunikativ, literarisch aufgeschlossen. Sie gehen auch schon mal ohne Männerbegleitung ins Konzert – oder nehmen eine Freundin mit. Sie gehören damit zu einer Mehrheit im Publikum. Wenn Sie sich umsehen, erblicken Sie in erster Linie andere Frauen, die allein, mit einer Freundin oder – seltener – mit einem Mann den Kunstgenuss zu schätzen wissen. Damit halten Sie den Kulturbetrieb am Laufen, jedenfalls in größerem Ausmaß, als dies Männer tun. Soweit also mal zur Publikums- oder (etwas flapsiger ausgedrückt) Konsumentinnenseite. Wenn man zur Produzentinnenseite wechselt sieht die Sache schon anders aus. Letzthin in der Philharmonie: Wie viele Frauen saßen da an den Notenpulten? Und wer hat dirigiert? Werke welcher Komponisten? Im Theater: Welches Geschlecht hatte die Hauptrolle? Das Buch, das Sie gerade lesen, von wem wurde es geschrieben? Der Kunstfilm im Kino – welche große Cineastin hatte ihr Händchen im Spiel? Auch hier Frauen, wohin man blickt? Eher nicht, oder? Dabei sind es von Kindesbeinen an die Mädchen, die sich eher kreativ ausdrücken. Malen, musizieren, Theater spielen – in der Schule klar eine Domäne des weiblichen Geschlechts. Jungs stellen sich – abgesehen von Ausnahmen –weniger gerne auf die Bühne, exponieren sich lieber nicht in sensiblen Rollen. Klar, wenn ihnen ein cooler Auftritt ohne Peinlichkeitsgefahr zugesichert würde, wären sie eher bereit, die Mühe von langweiligem Texteinstudieren und repetitiven Proben auf sich zu nehmen. Aber mit der Aussicht, möglicherweise vor der gesamten Schule als Weichei dazustehen – da melden sie sich dann doch lieber zum Fußballturnier an. Was nach männerfeindlichem Klischee klingt, entspringt meiner eigenen langjährigen Erfahrung als Leiterin von Schülerinnentheater. Ich kenne die verzweifelte Suche nach auch nur einem einzigen männlichen Schauspieler für ein Stück bei gleichzeitigem Überangebot an Mädchen – während die klassischen Theatertexte alle vor männlichen Hauptrollen strotzen und den Frauen allenfalls interessante Nebenrollen zuschanzen. Hier scheint sich ein Paradoxon zu ergeben: Während unter Jugendlichen die Geschlechterverteilung deutlich zugunsten der Frauen ausfällt, überwiegen unter Erwachsenen im Kulturbetrieb die Männer. Sie sind in der Regel vielleicht nicht zwingend zahl-, aber jedenfalls erfolgreicher als ihre weiblichen Pendants. Männliche Schauspieler sind am Theater gefragter als weibliche (was freilich auch an den oben erwähnten männerlastigen Stücken der Klassiker liegt), sie werden mit größerer Wahrscheinlichkeit in Orchestern aufgenommen (die freilich häufig althergebrachte „Männerclubs“ sind), und auch als Schriftsteller scheinen sie einen gewissen Vorteil zu genießen. Glauben Sie nicht? Dann blättern Sie mal eine beliebige Zeitschrift (allerdings keine Frauenzeitschrift) durch und zählen Sie die weiblichen Beiträge.
Woran liegt so etwas? Zum einen wohl an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Frauen nach wie vor anerzogen wird. Nicht zu weit die Klappe aufreißen, sich nicht ins Zentrum stellen. Nur so ist man sozial verträglich. Soweit ist das ja auch nicht falsch. Aber Kunstschaffende (und nicht nur sie) werden ernster genommen, wenn sie von sich überzeugt sind. Wenn sie ein Auftreten haben, das in die Welt posaunt: „Juhu, ich bin der Beste.“ Das kann man gut finden oder nicht, als Erfolgsrezept hat es sich allemal bewährt. Wenn nämlich „der Beste“ sich dann als doch nicht so gut erweist, mag man enttäuscht sein. Aber eine Chance hat er bekommen. Die Bescheidenen kriegen oft nicht einmal das. Zum zweiten – und jetzt, liebe Leserin, wird’s persönlich – liegt es vielleicht auch an Ihnen. Ja, liebes vorwiegend weibliches Publikum, ich unterstelle dir, dass du für stotternde Frauenkarrieren mitverantwortlich bist. Gib’s zu. Du schmachtest lieber Männer an. Wenn eine Frau vorne steht und singt, dann denkst du kritisch über ihre Schuhe nach und über ihre Frisur, ihre Hüften, ihre Beine, ihren Bauch. Ist damit alles in Ordnung, bist du vielleicht ein bisschen neidisch. Wenn nicht, dann denkst du „die hat keinen Stil“. Singt wunderschön, aber leider im falschen Outfit. Dem Mann da vorne hingegen verzeihst du so ziemlich alles. Die gelben Raucherzähne, das schüttere Haar, die schlabbrige Jeans. Der Kerl hat so was von Ausstrahlung. Und er ist ein großer Künstler. Da kommt es doch auf ganz andere Sachen an, nicht? Deine Großzügigkeit Männern gegenüber ist löblich. Warum kannst du sie nicht auch Frauen gegenüber aufbringen? Woher kommt deine subtile Geringschätzung für weibliche Leistung? Warum, liebes vorwiegend weibliches Publikum, kannst du den Frauen da vorne nicht ein bisschen mehr zutrauen? Ist das die vielzitierte innerweibliche Missgunst?
Noch nie wurde der Kulturbetrieb so sehr von Frauen geformt und beeinflusst. Als Redakteurinnen, Bibliothekarinnen, Vorsitzende von Kulturvereinen, häufig auch als Kulturreferentinnen haben sie ein gewichtiges Wort darüber mitzureden, welche Art von Kultur, und damit natürlich auch welcher Kulturschaffende, gefördert werden soll. Und doch bleibt es bis zum Schluss immer beim Feigenblatt: „Jetzt ist halt auch wieder mal eine Frau dran, der Quote zuliebe.“ Damit wird eine qualitative Minderwertigkeit unterstellt, die weder den Künstlerinnen noch der Kunst noch letztendlich dem Publikum gut tut. Wer will schon gern die Quotenfrau sein? Zu wissen, dass man nicht für seine Leistungen ausgewählt wurde, sondern einzig deswegen, weil man eine Frau ist, ist verletzend. Vielleicht spielt auch das eine Rolle, wenn viele Künstlerinnen irgendwann ihren beschwerlichen Kampf um einen Platz im Kulturbetrieb aufgeben. Sie tauchen ab in die Versenkung der Hobbymalerinnen, Laienbühnen und Lesezirkel und torpedieren vielleicht von dort aus andere Frauen. Ein Teufelskreis. Aber Sie, liebe mit hoher Wahrscheinlichkeit weibliche Leserin, die Sie jetzt um diesen Teufelskreis wissen, haben von nun an die Chance, ihn zu durchbrechen. Trauen Sie sich, trauen Sie uns. Wir Frauen sind vielleicht nicht die Besseren. Aber gut sind wir allemal.
