Die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit war eines der erklärten Ziele der Aufklärung. Seither halten wir uns sehr gerne für mündige, eigenverantwortliche Zeitgenossen. Zu recht?
Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, das wissen wir. Weniger bekannt ist, was genau damit gemeint ist. Das Menschenrecht Selbstbestimmung garantiert uns nicht nur Mitsprache, sondern Entscheidungsbefugnis in unseren eigenen Belangen. Das heißt, dass ich selbst bestimme, was ich mit mir und meinem Leben anfange. Ob ich morgens Kaffee trinke oder Tee oder Schnaps, ob ich mich vegetarisch ernähren möchte oder nur mit Fast Food, ob ich im Sommer Schneestiefel trage oder im Winter Sandalen – mein Wille ist mein Himmelreich. Mag sein, dass ich scheel angeschaut werde, wenn ich mit grünen Haaren und gepiercten Nasenlöchern durch die Stadt schlendere, möglich, dass man über mich den Kopf schüttelt, wenn ich statt auf Bildung oder Arbeit zu setzen tagelang in meiner Wohnung vor der Glotze vergammle – verbieten kann es mir keiner. Das wäre ja auch noch schöner. Mein Verhalten ist allein meine Sache. Ich lass mir da nicht gerne dreinreden, bin ja schließlich erwachsen. Deswegen rege ich mich ja auch in schönster Regelmäßigkeit über Vater Staat auf, der meint, mich mit Verboten disziplinieren zu müssen. Ich weiß schon selbst, wie schnell ich Auto fahren kann, die absurden Verkehrsschilder gelten höchstens für Leute, die eigentlich sowieso lieber mit dem Bus fahren oder gleich zu Hause bleiben sollten. Und meine Gesundheit geht den Staat auch nichts an, ich rauche, wann, wo und wie viel ich will! Ich poche auf meine Mündigkeit und werde nicht müde darauf hinzuweisen, dass ich meine Risiken schon selbst trage. Wenn ich glaube, dass ich nur abseits der Piste mein Skifahrerglück finden kann, dann hat mir kein Gesetzeshüter den Spaß zu verderben. Ich sehe mich in meiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, wenn mir dauernd jemand Vorschriften machen zu müssen glaubt. Ich bin ein aufgeklärter Mensch, ich treffe meine Entscheidungen autonom und trage auch selbst die Verantwortung für die Konsequenzen, die aus diesen Entscheidungen erwachsen. Oder nicht?
Das schöne Projekt der Aufklärung trägt die Gefahr seines Scheiterns bereits in sich. Mündigkeit ist anstrengend. Schon der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, einer der maßgeblichen Vordenker der Aufklärung, hat es auf den Punkt gebracht: „Es ist so bequem, unmündig zu sein“. Zum einen ist damit natürlich die Faulheit gemeint, mit der man gerne anderen das Denken und die Entscheidungshoheit überlässt. Zum anderen aber steckt in diesem Satz auch noch eine weitere Wahrheit. Wir tragen nicht gerne die Verantwortung für Dinge, die schief gelaufen sind. Wenn das, was wir tun, entgegen unserer Erwartung eine negative Folge für uns hat, sind wir nicht bereit, diese auf unsere Kappe zu nehmen. Wir suchen einen Schuldigen, den wir dafür verantwortlich machen können, dass wir uns so und nicht anders verhalten haben, jemanden, der unser Tun nicht verhindert hat. Der soll dann gefälligst den Schaden zahlen, der durch unser Vorgehen entstanden ist.
In der heutigen Zeit bedeutet das vor allem eins: den Gang vor den Kadi. Menschen, die sich mit jahrzehntelangem Zigarettenkonsum die Gesundheit ruiniert haben, verklagen die Tabakindustrie. Und bekommen Recht! Hier zählt die vielbeschworene Mündigkeit offenbar nicht mehr. Hier wird der Erwachsene wieder zum unmündigen Kind, dem man die Zündhölzchen wegnehmen muss, damit nichts passiert. Hier dürfen weder Allgemeinwissen noch gesunder Hausverstand vorausgesetzt werden. Wer es versäumt, gut sichtbare Warnhinweise auf seinen Produkten anzubringen, muss mit horrenden Schadensersatzklagen rechnen.
Zukünftig werden wir auf kohlesäurehaltigen Mineralwasserflaschen lesen „Achtung, Explosionsgefahr!“
Das glauben Sie nicht? Und doch geht genau dies aus einem rezenten Urteil des OGH in Österreich hervor. Eine Familie hatte geklagt, weil dem vierjährigen Sohn eine Mineralwasserflasche geborsten war und die Glassplitter das Kind so schwer an einem Auge verletzten, dass es auf diesem Auge nahezu erblindet ist. Nun muss der Hersteller des Mineralwassers voraussichtlich eine hohe Summe Schmerzensgeld berappen, weil nirgends auf der Flasche ein Hinweis war, dass etwas Derartiges passieren könnte. Damit ist nun auch in Österreich ein Präzedenzfall geschaffen, der, wie Kritiker befürchten, zu amerikanischen Verhältnissen führen könnte. Was kommt als nächstes? „Achtung, übermäßiger Konsum von Schokolade kann zu einer Gewichtszunahme führen“ oder „Achtung, Autofahren erhöht Ihre Gefahr, in einen Unfall verwickelt zu werden“?
Bereits jetzt muss ich manchmal schmunzeln, wenn ich auf Waschmittelpackungen lese „Inhalt nicht zum Verzehr geeignet“. Aber lustig ist das nicht gemeint. Wer weiß, wie viele Menschen ohne diesen Hinweis schon vor Gericht gezogen wären, weil sie mit dem schäumenden Pulver ihr Abendessen aufpeppen wollten.
Ja, das ist der Mensch in seinem Widerspruch: Wir wollen alle mündig und selbstbestimmt leben. Wir kennen unsere Rechte. Aber von Pflichten hören wir lieber nichts. Wir lassen uns nichts vorschreiben, unser Körper geht nur uns selbst was an, und wenn wir auf den Putz hauen, ist das unsere Sache. Und wenn doch mal was passiert, können wir immer noch zum Rechtsanwalt laufen, der uns nicht nur von unserer Eigenverantwortung befreit, sondern im besten Fall auch noch fette Schmerzensgelder für den erlittenen materiellen und psychischen Schaden herausschlägt. Wirklich eine reife Leistung. Im wahrsten Sinne des Wortes.