Wer auf dem Laufenden blieben will, muss sich ständig informieren. Früher nannte man so etwas: „Nachrichten anschauen“, und das war anstrengend. Heute gibt’s statt Nachrichten „News“. Und die machen richtig Spaß.


Als ich ein Kind war, gab es ein tägliches Familienritual, dem ich trotz aller Bemühung nicht entrinnen konnte: Pünktlich um halb acht Uhr abends versammelten sich alle vor dem Fernseher. Da kam nämlich die Zeit im Bild und brachte die Nachrichten des Tages. Für mich hieß es dann: Mund halten und zuhören. Viel verstand ich nicht von dem, was die seriösen Herren und Damen da erzählten. Aber ich wusste, es musste wichtig, ernst und sehr klug sein, schließlich kamen so komplizierte Wörter wie „UdSSR“ und „Schewardnadse“ im Text vor, die in meinen kindlichen Ohren wie sehr rätselhafte Geheimcodes klangen. Ansonsten waren Nachrichten für mich hauptsächlich eins: langweilig. Sie schienen schier kein Ende zu nehmen und erzählten von Dingen, die mir sehr weit weg vorkamen und mit mir nichts zu tun hatten. Aber etwas musste wohl dran sein, wenn die ganze Familie jeden Tag so gespannt vor dem Bildschirm saß.

Als ich älter wurde, begann ich mich vom abendlichen Nachrichtenritual zu lösen. Es gab schließlich auch Kindernachrichten, etwa „logo“ im ZDF oder die „Mini-ZiB“ im ORF. Da wurde mit einfacheren Worten und anschaulichen Bildern erklärt, was grade in der Welt los war. Der Moderator zeigte ein Land auch schon mal auf der Weltkugel, damit man es sich besser vorstellen konnte. In dieser vereinfachten und deutlich kürzeren Version der Nachrichten fehlten natürlich wichtige Hintergrundinformationen, aber für ein Kind genügte das Gebotene allemal. Irgendwann, dachte ich, würde ich bestimmt auch die wichtigen und komplizierten Erwachsenennachrichten verstehen, und dann würde mir endlich klar sein, warum die Welt so ist, wie sie ist.

Natürlich kam alles anders. Mit dem Internet-Zeitalter brach eine neue Ära der Informationsbeschaffung an. Wir können nun rund um die Uhr Nachrichten aus aller Welt abrufen. Wir sind ein mündiges, voll informiertes Publikum geworden, wir lassen uns nicht abspeisen, wir schauen genauer hin, wir wollen es wirklich wissen. Klingt ganz danach, als hätten wir endlich die Ideale der Aufklärung verinnerlicht, als feierten Kant, Voltaire, Schiller, und alle, die für Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortung, freies Denken eingetreten waren, einen späten Triumph. Und es stimmt ja: Wir haben alle Voraussetzungen für echte Teilnahme am Weltgeschehen, wir brauchen uns nicht mehr mit Halbwahrheiten und Fehlinformationen, mit Manipulationen und Zensur herumschlagen, nicht wahr? Wenn uns eine Quelle nicht verlässlich erscheint, können wir sie flugs durch eine andere ersetzen. Wir können jede Nachricht gegenprüfen, wir können uns zur Kurzmeldung die lange Version und zu dieser das ausführliche Hintergrunddossier suchen. Wir könnten stunden-, ja, tagelang mit Recherchen verbringen – aber wer hat dazu schon die Zeit und Lust? Am Ende landen die meisten doch wieder dort, wo sie gestartet sind: vor dem Fernseher. Aber, oha! Da hat sich einiges getan. Die Nachrichten haben sich verändert. Nicht nur, weil Schewardnadse und die UdSSR der Vergangenheit angehören. Die Meldungen heißen jetzt „News“ und werden von schicken jungen Moderatorinnen und Moderatoren in einem schmissigen „ZiB Flash“ präsentiert. Muss eben alles ein bisschen schneller gehen, wer hat schon Zeit für langes Palaver? Gegen Kürze ist ja nichts einzuwenden. Aber leider wird aus Kürze nur allzu oft Verkürzung. Und wenn dann noch die erwähnte „Schmissigkeit“ zuschlägt, hört sich das Ganze zuweilen etwas seltsam an. Da wurde also vermeldet, „Speedy Sarko“ habe sich dafür ausgesprochen, den „Pleite-Griechen“ noch einmal finanziell unter die Arme zu greifen. Dann wurde ein Außenkorrespondent dazu befragt, was davon zu halten sei, wie den Griechen das Geld „nachgeworfen“ werde. Das alles ging so schnell, dass ich die Kinnlade erst wieder hochklappen konnte, als längst der nächste Newsbeitrag über den Pinguin „Happy Feet“ lief, der von einem „Starchirurgen“ operiert worden war.

Und nun noch einmal langsamer. „Speedy Sarko“ – nach einigem Überlegen begriff ich, dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy gemeint war. Das Beiwort „Speedy“ (wie in „Speedy Gonzales, der schnellsten Maus von Mexiko“) macht wohl die schnellste Maus von Frankreich aus ihm, einen Comic-Helden. Demnächst wird Angela Merkel vielleicht als „Poison Angie“ angekündigt, Barack Obama als „Obaminator“ – und Berlusconi hält sich ja ohnehin für Superman. Schwerer traf mich die Bezeichnung „Pleite-Griechen“. Das (Un-)Wort klingt verdächtig nach BILD-Zeitung, und dass es vom ORF einfach so übernommen wird, scheint mir bedenklich. Ein ganzes Volk so simpel zu verschlagworten passt nicht zu seriösem Journalismus. Schlimmer ist aber, was in den Köpfen der Zuschauer angerichtet wird. Untrennbar sind nun die Begriffe „Pleite“ und „Griechen“ vereint, hört man den einen, denkt man an den anderen. Sich von solchen unwillkürlichen Assoziationen zu lösen ist schwerer, als man glaubt. Oder was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Griechenland denken?

Zuletzt noch die Frage nach dem „nachgeworfenen“ Geld. Auch hier wird etwas suggeriert, das im Zuseher Aggressionen schürt: Mein sauer verdientes Geld wird diesen faulen Pleite-Griechen „nachgeworfen“! In diese Kerbe schlagen derzeit viele, und der Stammtischton ist offenbar salonfähig geworden. Das Fazit ist ganz klar: Der ZiB Flash-Beitrag war kein neutraler Bericht, sondern üble Stimmungsmache, dargeboten in launigem Plauderton. Da tröstet es nicht, dass später in der Nacht auch noch eine längere Nachrichtenversion nachgeschoben wird, die das in drei Minuten Kurzgebratene auf zwanzig Minuten wiederkäut, in denen vielleicht für differenziertere Berichterstattung Zeit ist.

„A Hetz muaß sein“, sagt der Tiroler, und tatsächlich sind die Medienmacher gar häufig zu einer kleinen Hetze aufgelegt. Diese verbirgt sich manchmal nicht im Text, sondern im dazu beigesteuerten Bild. Wir wissen ja: Unser Zeitalter ist ein visuelles, wir wollen uns etwas bildhaft vorstellen können. Und so ist unser Weg zur Information mit Bildern gepflastert – doch allzu häufig haben die Bilder nur wenig mit dem dazugehörigen Text zu tun, oder sie dienen gar zur Irreführung des Lesers. Dies gilt nicht nur für Fernsehberichte, sondern auch für Artikel in Printmedien. So war vor kurzem in einer Südtiroler Tageszeitung die Schlagzeile „Keine Note unter 4“ zu lesen. In einem Notensystem, das von 1 (der schlechtesten) bis 10 (der besten) Note geht, ist 4 freilich keine erfreuliche Note, und Noten darunter sind es noch weniger. Aber gewöhnlich gibt es solche Noten nur im Ausnahmefall und jedenfalls nicht in Zeugnissen. Oder etwa doch? Neben dem Bericht war ein Schulzeugnis abgebildet, in dem es von 2en, 3en und 4en nur so wimmelte. Schreck lass nach, wer kann nur so herzlos sein! Bei genauerem Hinsehen zeigte sich jedoch, dass es sich um ein einsprachig deutsches Zeugnis handelte – also nicht um ein Südtiroler Zeugnis, diese sind nämlich zweisprachig. Im deutschsprachigen Ausland freilich gibt es ein anderes Notensystem. 1 ist dort die beste Note. 2en und 3en sind also gute Noten, das Zeugnis war das Zeugnis eines braven Schülers. Keine Note unter 4! Für unseren braven ausländischen Schüler mit seinem guten Zeugnis wäre das eine schlechte Nachricht. Aber wer schaut schon so genau hin, wer denkt schon so weit? Der Leser sieht, was er sehen soll: Ein schlechtes Zeugnis mit lauter sehr negativen Noten. Und solche Zeugnisse gibt es, hier haben wir ja den Beweis! Das muss aufhören! Das Bild hat sein Ziel erreicht. Der Leser wurde getäuscht. Die Hetze ist angekommen.

Ja, wir haben alle Möglichkeiten, um uns vielseitig und tiefgehend zu informieren. Doch allerorts lauern Verschleierung, Meinungsmache, Manipulation, verkappt als knackige Schlagzeile oder als dazugeselltes Bild. Wir müssen auf der Hut sein. Wir müssen genau hinhören und genau hinsehen. Die News von heute kommen als abwechslungsreiches Infotainment daher, d.h., die Information wird auf unterhaltsame Weise verpackt, leicht verdaulich und idiotensicher, Bewertung inklusive. Es ist soweit: Nachrichten machen Spaß. Heute kann ich „logo“ und „Mini-ZiB“ für Erwachsene anschauen. Als Kind hätte ich mir das gewünscht. Schade nur, dass ich aus diesem Alter heraus bin.

Immer auf eine kleine Hetze aufgelegt

Juli-Beitrag für die swz 2011

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