Die Hausaufgabe nicht gemacht – „Der Hund hat’s gefressen!“ Vergessen, Vorfahrt zu geben – „Der Idiot im roten Auto hat mich irritiert!“ Die Briefe nicht zur Post gebracht – „Bei diesem Wind kann ich nicht klar denken.“ Für alles finden wir einen Sündenbock. Schluss damit!
Ein bisschen Kulturgeschichte am Anfang: Einmal im Jahr feiern die Juden den „Versöhnungstag“ Jom Kippur, das Fest der Sündenvergebung. Dabei wurden in biblischer Zeit die Sünden der gesamten Volksgemeinschaft symbolisch auf einen ausgewählten Ziegenbock „übertragen“ – und dieser Bock mit der Sündenlast in die Wüste geschickt. Und damit war alles vergeben und vergessen. Das Ritual ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Der Sündenbock ist geblieben. Es passiert uns fast unwillkürlich: Wenn etwas schief geht, dann muss einer die Schuld haben. Natürlich nicht wir. Wir haben nur unser Bestes getan wie immer. Aber irgendetwas (oder oft auch irgendjemand) hat uns drausgebracht, provoziert, verwirrt – und jetzt liegt die Vase in Scherben. Aber schuld sind nicht etwa die ungeschickten Hände, denen die Vase entglitten ist, schuld ist das Lied, das grade im Radio lief, da wird man nämlich ganz wuschig. Jeder von uns kennt die üblichen Verdächtigen, die nie an irgendwas schuld sind und nur ständig zu Opfern werden – der Mitmenschen, der Umstände, der Weltverschwörung. Aber wetten, auch Sie haben sich schon einmal rauszureden versucht? Vielleicht erst heute wieder, als die Pfannkuchen angebrannt sind – „Kinder, schaut, was ihr angerichtet habt mit eurem Herumgeschreie!“
Unsere Verantwortung auf andere abzuwälzen, scheint ein angeborener Reflex zu sein. „Ich war’s nicht!“ beteuern wir mit dem Brustton der gekränkten Unschuld. Und im nächsten Moment haben wir auch schon den „wahren Verursacher“ des Übels ausgemacht. Und jetzt soll der an unserer Stelle die Folgen ausbaden. Das führt – wen wundert’s? – zu Konflikten. Wer wird schon gern zum Sündenbock abgestempelt. Die Reaktion ist absehbar: „Was, mir willst du das in die Schuhe schieben? Dabei warst doch du es!“ Und schon werden Verantwortungen hin- und hergeschoben, bis es nicht mehr um die Sache an sich, sondern um viel tiefer liegende Konflikte, persönliche Eitelkeit und Revanchismus geht. Manchmal liegt der Fall freilich kompliziert. Es gibt durchaus Missstände, bei denen es schwierig ist, einen Schuldigen zu identifizieren. Mit vagen Antworten geben wir uns aber nicht zufrieden. Wir wollen genau wissen, auf wen wir wütend sein und wen wir in die Wüste schicken sollen. Und auch das liegt in unserer Natur: Mag der Fall noch so komplex erscheinen, es findet sich in kürzester Zeit etwas oder jemand, dem die Schuld zugeschoben werden kann. Natürlich entspricht es unserem Gerechtigkeitsempfinden, dass der, der den Schaden verursacht, auch die entsprechenden Folgen zu tragen hat. Doch es gibt Suppen, die von so vielen eingebrockt worden sind, dass sie ein einzelner nicht mehr auslöffeln kann. Ein klassisches Beispiel ist der „Klimawandel“. Für manche ist er ein Hirngespinst verwirrter Wissenschaftler, für andere Panikmache der Medien, wieder andere wissen, dass die Ölkonzerne dahinterstecken oder vulkanische Tätigkeit, manche glauben auch, es habe mit dem CO2-Ausstoß jedes einzelnen zu tun. Und je nachdem, wen wir für schuldig erklären, handeln wir – oder auch nicht. „Was kann ich dafür, wenn die Flugzeuge die Umwelt verschmutzen?“ „Was, ich soll auf Fleisch verzichten, bloß, weil die Argentinier zu viel davon essen?“ „An den prekären Verhältnissen sind die transnationalen Großkonzerne schuld, da hat der kleine Mann sowieso keine Chance.“
Letztlich ist das Suchen und Finden eines Sündenbocks eine wunderbare Möglichkeit, sein eigenes Verhalten nicht zu hinterfragen und es somit auch nicht zu ändern. Ausreden zu finden, ist eben viel einfacher, als sich an der eigenen Nase zu fassen und zu seiner Verantwortung zu stehen, mag sie auch noch so marginal sein. Sinnvoller jedoch wäre, die Sündenböcke dorthin zu schicken, wo sie hingehören: in die Wüste. Und dann die Ärmel aufzukrempeln und die Scherben der zerbrochenen Vase einzusammeln. Am besten alle gemeinsam.