Und, wie lautet Ihr Programm? Nein, sagen Sie nicht, Sie haben keines. Natürlich haben Sie eines, wir alle haben eines. Sogar, keines zu haben, ist der Beweis für eins. Die Rede ist von Ihrem Ernährungsprogramm. Low Carb? Low Fat? FDH? Weight Watchers? Schlank im Schlaf? Glyxdiät? Paläo? Atkins? Wenn Sie auch nur mit der Hälfte dieser Begriffe etwas anfangen können, sind Sie schon mittendrin. Und selbst, wenn nicht: Sie können mir nicht erzählen, dass Sie einfach essen, worauf Sie grade Lust haben. Obwohl wir zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eigentlich genau das tun könnten. Zum ersten Mal sind wir Europäer nicht von Hunger bedroht, zum ersten Mal können wir uns nicht nur aussuchen, ob, sondern sogar, wie wir satt werden. Oder genauer: könnten. Denn in Wahrheit ist es viel komplizierter. Während die Supermarktregale und Marktbuden sich unter der Last ihres übergroßen Angebots nahezu verbiegen, stehen wir ratlos davor und fragen uns: Was soll ich bloß auswählen? Wofür wir uns entscheiden, wird von vielen Faktoren bestimmt, und die meisten von diesen haben sehr viel mit Glaubenssätzen zu tun. Ja, das Essen hat zum Teil religiöse Züge – hatte es übrigens immer schon. Früher wurden die Götter zum Mahl eingeladen, man opferte ihnen, verzichtete in ihrem Namen auf bestimmte Speisen. Letzteres wird heute noch praktiziert. Nur heißen die heutigen Götter zum Teil ein bisschen anders, z.B. Dr. Pape …
So ist es unbestreitbar: Hinter jeder Mahlzeit, die wir zu uns nehmen, steht mehr: Da ist zum einen der ästhetische Aspekt. Mein Essen soll mich schlank machen. Oder zumindest nicht dick. Auf bestimmte Lebensmittel achte ich daher besonders und versuche, nicht zu viele aus dieser Gruppe zu essen. Gruppe? Ja, das weiß heute jedes Kind: Jedes Lebensmittel lässt sich einer Kategorie zuordnen oder wird, je nach Ernährungsprogramm, mit Punkten berechnet. „Noch ein paar Kartoffeln, Frau Müller?“ – „Nein, danke, ich hab mein Kohlenhydratlimit für heute schon erreicht.“ Zum nächsten ist da der gesundheitliche Aspekt, der häufig vor den ästhetischen geschoben wird, um zu verschleiern, dass man die Schokolade nur deswegen nicht isst, weil man sich vor Cellulitis fürchtet. Wenn es um unsere Gesundheit geht, sind wir zu allem bereit. Da lassen wir uns auch den ungeliebten Brokkoli auf den Teller diktieren. „Mein Arzt hat gesagt, ich muss mehr grünes Gemüse essen.“ Schön wär’s. Mit Gemüse ist es meist nicht getan. In Zeiten von Allergien und (häufig genug überaus dubios „diagnostizierten“) Lebensmittelunverträglichkeiten wird die Nahrungsaufnahme zum Drahtseilakt. Glutenfrei, laktosefrei, ohne Nüsse, ohne Tomaten, ohne Zucker, mit viel buntem Obst und Gemüse, aber bitte ohne Pestizide, Geschmacksverstärker oder Konservierungsstoffe – was mich nährt, macht mich krank. Viele fürchten sich vor dem nächsten Einkauf und stellen sich verzweifelt die Frage, was sie denn überhaupt noch essen dürfen. Zumal uns ganz nebenbei auch ein schlechtes Gewissen gemacht wird. Flugobst sollen wir keines essen. Immer schön saisonal und regional. Darauf, dass Kokosnüsse bei uns Saison haben oder Schokolade regional produziert wird, können wir lange warten. Dann sollen sie zumindest fair gehandelt sein. Das lässt sich nicht immer zweifelsfrei nachweisen. Vor allem: Was, wenn es fair, aber nicht bio ist? Dann ist wieder alles umsonst. Wir stehen wie vorher traurig vor dem gefüllten Regal und wissen nicht, was kochen.
Zum Glück hilft eine Industrie von Nahrungsergänzungsmitteln aus. Vitamine hier, Mineralien dort, dann noch ein Verdauungssirup und ein Eiweißshake, und wir entgehen der Mangelernährung, die uns unsere einseitigen Ernährungsprogramme bescheren würden. So können wir unbeschwert weiter fettfrei essen oder als überzeugte Fructivoren uns einzig von dem ernähren, was vom milden Strahl der Sonne fällt, wir können mit dem Schlachtruf „Fleisch ist mein Gemüse!“ den europäischen Pro-Kopf-Durchschnitt an verzehrtem Schweinearsch heben, wir können Körnchen zählen oder Erbsen oder Kalorien, und wenn wir gar nichts mehr essen wollen, hält uns Flüssignahrung aus dem Tropf wortwörtlich bei der Stange.
So ein Unsinn, rufen Sie jetzt. Ich esse, was mir schmeckt, Punkt.
Aha. Da übersehen Sie aber einen weiteren wesentlichen Aspekt, nämlich den kulturellen. Was wir wann essen, bestimmen auch unser gesellschaftliches Umfeld, die Tradition oder – immer öfter – die Mode. Reis mit Fisch und Suppe zum Frühstück? Lebkuchen im Hochsommer? Etwas abwegig? Nicht, wenn Sie in Japan aufwachsen oder in Australien Weihnachten feiern. Und während meine Großmutter in ihrem Leben noch nie eine Frühlingsrolle gekostet hat, gehört ein Abendessen im Chinarestaurant heute so selbstverständlich dazu wie eines in der Pizzeria um die Ecke. Manches nehmen wir auch einfach nur zu uns, weil es findigen Werbefachleuten gelungen ist, uns weiszumachen, dass genau dieser Schokoriegel uns den nötigen Energiekick gibt oder unserer Verdauung auf die Sprünge hilft. Vielleicht ist es auch die bunte Verpackung mit den schönen Abbildungen frischer Früchte, die uns angesprochen hat, obwohl wir insgeheim wissen, dass im Beerenriegel abgesehen von künstlichen Aromen, geschmacksfördernden Fetten und sättigenden Kohlenhydraten nicht viel drin ist. Handgepflückte Waldbeeren schon gar nicht.
Deswegen: Wenn Sie das nächste Mal zu etwas Essbaren greifen, halten Sie kurz inne. Fragen Sie sich, warum Sie gerade jetzt gerade das essen wollen. Hat sie Werbung beeinflusst? Oder folgt Ihr Speiseplan einer bestimmten Ideologie? Beruhigen Sie mit dem fragwürdig schmeckenden Hirselaibchen, das Sie nur halbherzig hinunterwürgen, Ihr schlechtes Gewissen? Oder brauchen Sie nach dem anstrengenden und frustrierenden Arbeitstag jetzt einfach einen kleinen kulinarischen Seelentröster?
Und wenn Sie zu Ende nachgedacht haben und egal, zu welchem Ergebnis Sie kommen: Vergessen Sie es einfach. Schließen Sie die Augen und - lassen Sie es sich schmecken. Ich jedenfalls wünsche Ihnen das, was keine Selbstverständlichkeit mehr ist: einen guten Appetit.