Jetzt sind wir alle geschockt. Enttäuscht. Empört. Der „saubere Sport“ ist (zum wievielten Mal eigentlich?) entzaubert. Wie sollen wir noch unseren Kindern beibringen, dass es besser ist, im Freien herumzutoben als vor dem Bildschirm zu vergammeln, wenn die leuchtenden Vorbilder schlagartig an Strahlkraft verlieren und sich als schmutzige Betrüger herausstellen?
Dabei waren wir doch alle so überzeugt – die wirklich Guten, die machen so was nicht. Das machen nur die anderen. Sport ist gesund. Und wer fleißig trainiert und fest an sich glaubt, der kann es an die Spitze schaffen. Mit solchen Motivationssprüchen werden wir von Kindesbeinen an geimpft. Und dann sehen wir sie auflaufen, die „gesunden“ Sportler, in prallgefüllten Kampfarenen, moderne Gladiatoren in Großaufnahme. Wir bewundern ihre gestählten Körper, die von jahrelangem Training geformt sind. Manchen sieht man schon an der Silhouette an, in welchem Bewerben sie antreten werden. Seit frühester Kindheit arbeiten sie auf diesen Moment hin, begleitet und angefeuert von ehrgeizigen Eltern und Trainern, die Erwartungshaltung einer ganzen Nation im Nacken. Ihr Körper ist ihr Kapital. Und dieses Kapital kann Gold wert sein. Verschwenden wir auch nur eine Sekunde lang einen Gedanken daran, was das bedeutet? Den eigenen Körper, und nichts als ihn, in die Waagschale zu werfen, ist riskant. Der Körper macht es uns nicht leicht. Er zickt. Heute Verstopfung, morgen eine leichte Erkältung. Kopfschmerzen. Menstruationsbeschwerden. Kaum ein Tag, der ohne Wehwehchen vergeht. Aber nicht für sie, nicht für die Virtuosen, die ihre Anatomie wie ein Musikinstrument beherrschen. Sie wissen, auf welche Tasten sie drücken müssen, um im richtigen Moment tadellos zu funktionieren. Mit einer Armada an Ernährungsberatern, Physiotherapeuten und Ärzten erarbeiten sie die genau richtige Portion Spaghetti für den Tag vor dem Wettkampf. Und mit ein paar Trainingseinheiten in dünner Gebirgsluft werden die Organe für übermenschliche Aufgaben auf Schiene gebracht. Alles sauber, alles gesund.
Glauben wir das wirklich? Oder wissen wir insgeheim nicht schon längst, dass das, was uns da an für uns Normalsterbliche unerreichbarer Perfektion aus den Bildschirmen entgegenquillt, nur mit ein bisschen schwarzer Magie zustande kommen kann? Frauen mit Muskelpaketen wie Arnold Schwarzenegger als Conan der Barbar. Männer, deren Beine scheinbar endlos weiterradeln, wenn jeder andere schon entkräftet vom Fahrrad gekippt wäre. Sie sind eben eine andere Spezies, die Spitzensportler. Von den Niederungen des Breitensports, wo schlaffe Mitvierziger gegen den grassierenden Hüftspeck anjoggen, ist die Sphäre der Superkörper so weit entfernt wie die Steinzeit vom Cyberzeitalter. Und das ist auch gut so, nicht wahr?
Bei jedem Großereignis sehen wir staunend nicht nur die neuesten Entwicklungen in der Sportbekleidungsindustrie. Wir wollen auch Rekorde purzeln sehen. Bei jeder Weltmeisterschaft erwarten wir uns neue Höchstleistungen. Die Sportler sollen noch schneller, noch stärker, noch präziser agieren als jemals ein Mensch zuvor. Das, so will mir scheinen, bestärkt uns im Gefühl, dass wir heute die besten Menschen aller Zeiten sind. Ein Blick in die Archive des Sports genügt: Wenn wir heute die Sportgrößen von damals sehen, überkommt uns fast so etwas wie gönnerhaftes Mitleid. Ja, damals. Als die Skifahrer noch mit Mamas selbstgestrickten Wollstutzen und auf hölzernen Brettern unterwegs waren. Damals waren die Menschen einfach noch nicht so weit. Sie waren langsam, fast schon schwerfällig. Heute würde ein Sieger von damals nicht einmal mehr die Qualifikationsrunden überstehen. Dieser Gedanke erfüllt uns mit Stolz. Sollte er uns nicht nachdenklich stimmen? Die Auswüchse des Spitzensports sind auch unserem Drang zu immer extremeren Leistungen geschuldet. Dass diese ohne zu radikalen Mitteln zu greifen nicht zu haben ist, ist uns dumpf bewusst. Aber wir schließen die Augen vor dieser unangenehmen Realität. Hauptsache, der Wettkampf ist spektakulär. Die dargebotene Leistung atemberaubend. Der Siegestaumel endlos.
Es hat schon Vorschläge gegeben, Doping nicht mehr als solches anzusehen. Mit zynischem Unterton wurde argumentiert, die Grenzen zwischen legalen und illegalen Manipulationen seien ohnehin fließend, die Belastung und mithin der Schaden für den Körper in jedem Fall fatal. Wer fragt schon nach kaputten Gelenken oder kollabierenden Organen, wenn der Medaillenrausch vorbei ist? Man solle, so konnte man lesen und hören, den Spitzensport wie ein Wettrennen der Formel Eins betrachten, die Athleten als mit allen erdenklichen Mitteln getunte Kampfmaschinen, hinter denen ein ganzes Team von Experten steht. Freilich wäre ein solcher Blick auf den Sport ein abgeklärter, ein ernüchterter. Sachkundig könnte man sich über Erfolge der Pharmaindustrie austauschen und die Vorteile des einen Mittels gegenüber dem anderen abwägen. Totale Transparenz bei gleichzeitiger totaler Legalisierung aller Methoden – ist das der Weg zu Sportereignissen ohne Skandale? Oder sind die Skandale mit ihren traurigen Helden auch schon längst zum Teil des Systems geworden, in dem alles erlaubt zu sein scheint, solange man sich nicht erwischen lässt?
Es wird weiter diskutiert werden. Die Frage, die dabei eine Hauptrolle spielen sollte, ist die, ob wir einen sauberen Sport mit all seinen Konsequenzen aufrichtig wollen. Dann wären die Sportler wieder Menschen wie du und ich und keine Superhelden mit übernatürlichen Fähigkeiten. Taugen sie dann noch als strahlende Vorbilder für die Jugend? Locken sie dann noch das verwöhnte Publikum hinter dem Ofen hervor? Ziehen sie dann noch das Interesse zahlungskräftiger Sponsoren auf sich? Sind wir wirklich bereit, die Sportwelt, wie wir sie derzeit kennen, radikal zu verändern? Oder lassen wir uns vom nächsten Fabelsieg wieder benebeln und schwenken vor dem Fernseher triumphierend die Fähnchen unserer neuen Lieblinge, die – diesmal ganz bestimmt – nur aufgrund genetischer Veranlagung und fleißigen Trainings in kanadischen Wäldern zu den Titanen geworden sind, als die sie uns vorgeführt werden? Vielleicht ist es aber auch einfach nur Zeit, den Fernseher auszuschalten und ein bisschen joggen zu gehen. Sport ist ja so gesund.