Das lange Warten auf den Erlöser

Oder: Von der Erbsünde



Die Adventszeit der frühen Christen war eine Zeit des Fastens und der Umkehr. Dem Gleichnis von den klugen Jungfrauen getreu, die sich auf den Einzug des Bräutigams vorbereiten, sollten sich auch die Gläubigen mit Kerzenlicht und Gebeten auf die Ankunft des Erlösers einstimmen. Von diesen Gebräuchen ist kaum noch etwas übrig geblieben. Die Adventszeit des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts ist von anderem geprägt, und ich brauche hier wohl nicht detailliert auf die Auswüchse von Kitsch und Kaufrausch einzugehen. Man kann diese Entwicklung nun begrüßen oder bedauern, ich für meinen Teil möchte die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung der Adventszeit nutzen, um ein wenig über den Begriff der Erlösung nachzudenken.  Wovon nämlich erlöst der Erlöser? Wir haben es gelernt: Er „nimmt die Sünde der Welt“ hinweg. Was nun alles eine Sünde ist, das ist natürlich Definitionsfrage. Folgt man den zehn Geboten allein, so wäre es zB nicht unbedingt eine Sünde, andere zu unterdrücken, zu versklaven oder zu quälen. Unsere heutige Vorstellung von Sünde ist daher wohl eine andere als die früherer Zeiten, für beide jedoch gilt: Erlöst werden kann man nur, wenn man seine Sünden aufrichtig bereut und dafür Buße tut. Der Erlöser hat also die prinzipielle Möglichkeit zur Erlösung geschaffen, doch diese bleibt ein Angebot, das man annehmen kann oder auch nicht. Damit ist die „Erlösung“ also keineswegs ein Automatismus, der schon durch die Zugehörigkeit zum „rechten Glauben“ allein zustande kommt.

Ich bin in einem religiösen Umfeld aufgewachsen, in der die althergebracht-strenge Erstkommunionsvorbereitung unseres Pfarrers vom weltoffen-aufgeklärten Religionsunterricht unserer Lehrerin ergänzt wurde. Zudem war es selbstverständlich, dass ich jeden Sonntag in die Kirche gehen musste, während der Fastenzeit auch täglich. Zudem hat mir meine Mutter beim Zubettgehen eine Weile „Die schönsten Erzählungen aus der Bibel“ von Pearl S. Buck vorgelesen. So kam es, dass ich mit der Zeit eine ausgewiesene Expertin in Sachen Christentum namentlich Katholizismus wurde. Trotz meiner jungen Jahre kannte ich also bereits die wichtigsten Episoden des Alten und Neuen Testaments und die wesentlichen Lehrsätze des Glaubens, Kenntnisse, von denen ich bis heute zehre. Und im Bezug auf die Sünde hatten wir – ich glaube, ich spreche durchaus nicht für mich allein – schon als Kinder gelernt, dass es keineswegs genügt, eine halbherzige Beichte abzulegen, um von seiner Schuld freigesprochen zu werden. Wahre Umkehr, aufrichtige Buße konnte nur in einer tiefgreifenden Änderung der Lebensweise bestehen: Geh hin und sündige nicht mehr. Das war ein klarer Auftrag, und er leuchtete uns Kindern ein: Man musste zu seiner Verantwortung stehen und es dann versuchen, besser zu machen. Soweit, so einfach. Nur mit einem hatte ich von Anfang an Mühe: mit der Erbsünde nämlich.

Es wollte mir einfach nicht einleuchten, wie man zur Welt kommen und sogleich schon ein Sünder sein konnte. Freilich, die Schuld Adams. Aber was konnten denn Leute, die tausende von Jahren nach Adam geboren worden waren, dafür, dass ihr Urvater vom verbotenen Baum genascht hatte? Mir widerstrebte der Gedanke, dass man für eine Sünde Buße tun sollte, die man gar nicht begangen hatte. Dies schien mir doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die so gar nicht zum Bild des gerechten und gütigen Gottes passte. Gewiss, durch die Geburt Christi und seinen Erlösertod am Kreuz war das Dilemma elegant überwunden und die Erbsünde nun offiziell nur noch denen überlassen, die der falschen Religion frönten. Das Problem war daher für mich erledigt.

Seither sind viele Jahre ins Land gezogen. Meine Zweifel in religiöser Hinsicht haben zugenommen, und auch andere Bereiche des Lebens sehe ich nicht mehr mit der naiv-vertrauensvollen Sicht des Kindes, das da glaubt, es gebe hinter allem eine verborgene Ordnung, wonach alles seine Richtigkeit hat, was passiert. So hatte ich mir das nämlich vorgestellt: Wenn meine Generation, also die Generation jener, die in den achtziger und neunziger Jahren aufgewachsen sind, erst erwachsen sein würde, würden sich alle Probleme lösen, da wir verstanden hätten, worauf es ankommt: Geh hin und sündige nicht mehr. Wir hatten gelernt, dass man Energie sparen und mit dem Fahrrad statt mit dem Auto fahren musste, dass man zum Einkaufen Jutetaschen verwendete und dass man Müll recyclen konnte, ein Wort, dass damals gerade in Mode geriet. Wir würden hilfsbereit und tolerant miteinander umgehen und eine neue, sozial und ökologisch verantwortliche Gesellschaft aufbauen und die Fehler unserer Vorfahren nicht wiederholen. Wir würden kultivierter und weltoffener, aufgeklärter und solidarischer sein, und keiner mehr würde zu den unerträglichen Schundschlagern des volkstümlichen Gedudels schunkeln. So wuchs ich zuversichtlich einer glorreichen Zukunft, einem goldenen Zeitalter der Menschheit entgegen. Die Mauer fiel, der Kalte Krieg war beendet, alles wurde gut. Ich sah mich also bestätigt. Mit den Jahren musste ich aber mit zunehmender Bestürzung feststellen, dass man uns betrogen hatte: Die Mächtigen der Welt traten keineswegs für das Wohl aller ein, der Kampf für die Menschenrechte und der Schutz der Umwelt blieben einigen wackeren Schwärmern überlassen, und die Mär von der unsichtbaren Hand des Marktes, die alles reguliert, zerplatzte bekanntermaßen wie die sattsam strapazierte Seifenblase. Heute stehe ich vor den Trümmern meiner Gutgläubigkeit, die mir vorgegaukelt hatte, es werde sich alles auf jeden Fall irgendwann zum Besten richten. Nichts davon hat sich bewahrheitet. Wir sind um keinen Deut besser als unsere Vorfahren, und sogar die volkstümlichen Schmiermelodien erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Und in noch einem Punkt habe ich mich eines Besseren besinnen müssen, im Punkt der Erbsünde nämlich. Mittlerweile scheint es mir gar nicht mehr so abwegig, dass man von Geburt an Schuld mit sich tragen kann. Denn wie steht es damit: Wer in die sogenannte „westliche Welt“ hineingeboren wird, ist schon vor seiner Geburt ein kleiner Umweltzerstörer, der mehr Ressourcen verbraucht, als die Welt ihm zur Verfügung stellt. Der Preis dafür liegt auf der Hand: Erstens müssen zum Ausgleich anderswo auf der Welt Menschen mit deutlich weniger auskommen, zweitens wird kurzerhand Raubbau betrieben, damit uns nach wie vor scheinbar uneingeschränkt Energie und Rohstoffe zur Verfügung stehen. Es gibt mittlerweile kaum mehr jemanden, der vor dem eklatanten Missverhältnis zwischen dem Wohlstand der „westlichen Lebensweise“ und der Hunger- und Elendstragödie in der restlichen Welt die Augen verschließen kann. Doch wer gesteht sich schon ernsthaft und in aller Konsequenz ein, was eine faire Auseinandersetzung mit dieser unseren „Erbsünde“ bedeuten würde? „Es war eben schon immer so“, heißt es da rasch, „wir als Einzelne können ohnehin nichts ändern“, womit der Schwarze Peter an frühere Generationen oder an nebulöse Mächte weitergereicht wird. Selbst anzupacken hat etwas von der Absurdität, die sinkende Titanic mit einem Teelöffel leerschöpfen zu wollen. Der Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens bewusst, legen wir unsere Teelöffel beiseite und verhalten uns so, wie wir es im Bezug auf die Erbsünde gelernt haben: Wir warten auf den Erlöser. (Derzeit scheint nun tatsächlich eine Lichtgestalt gefunden zu sein, der man zutraut, die Sünden der Welt hinwegzunehmen, nämlich Barack Obama, der schon vor Amtsantritt nur noch scheitern kann.) Ansonsten aber stehen wir unserer ererbten Schuld hilflos gegenüber, und der scheinbar so einfache Auftrag „geh hin und sündige nicht mehr“ scheint uns schier unerfüllbar. Was können denn wir dafür, dass es bei uns so viele Autos gibt, dass die öffentlichen Verkehrsmittel unzulänglich sind, dass man in unseren Supermärkten den Blumenkohl vom Bauern nicht, die kernlosen Trauben aus Südafrika aber sehr wohl bekommt? Und sollen wir etwa aufhören, unsere Wohnungen zu heizen,  nur weil anderswo Kriege um Öl geführt werden? Wir fühlen uns unschuldig und insofern auch nicht verantwortlich. Unsere Nicht-Verantwortlichkeit jedoch schlägt leicht in Verantwortungslosigkeit um, mit der wir achselzuckend einfach so weitermachen wie bisher und eine noch größere Erbschuld auf die Schultern unserer Nachkommen häufen. Der dumpfe Druck unseres Gewissens wird einmal im Jahr durch mehr oder minder großzügige Spenden erleichtert, und angesichts der aktuellen Finanzkrise ist selbst das nicht mehr nötig. Harte Zeiten verlangen harte Maßnahmen, und wir sind schnell dabei, wenn es darum geht, die Gürtel anderer Leute noch enger zu schnallen. Eine grundsätzliche Änderung unseres Lebensstils jedoch kommt für uns keineswegs in Frage, vor allem, da wir – und das durchaus nicht zu Unrecht – der Meinung sind, dass es noch viel größere „Sünder“ als uns gibt. Wir sind die kleinen Fische, die in verhältnismäßig bescheidenen Unterkünften wohnen, verhältnismäßig sparsame Autos fahren, verhältnismäßig selten verreisen, verhältnismäßig wenig wegwerfen und somit verhältnismäßig einen geringeren Anteil an der Zerstörung des Planeten, an der Ausbeutung Ärmerer, an der Ermordung Hunderttausender haben. Andere sind da weit schlimmer, die haben Privatjets, die kippen ihre giftigen Abfälle einfach in die Flüsse, die verseuchen ganze Landstriche, stellen Arbeiter zu menschenunwürdigen Bedingungen an und vertreiben systematisch ganze Ethnien aus ihrer Heimat. Im Vergleich dazu sind wir die reinsten Lämmer. Immerhin kaufen wir auch mal Bio-Produkte und trennen Papier und Glas. Bevor wir also auf unseren kleinen Luxus verzichten, sollen erst mal die anderen auf ihren großen Luxus verzichten. Der Gedanke ist naheliegend und verständlich. Leider jedoch trägt er keineswegs dazu bei, dass wir nun die Reichen unter Druck setzen und von ihnen tiefgreifende Veränderungen verlangen, ganz im Gegenteil: Während wir die „Großen“ wie bisher weiterwursteln lassen und unsere eigene Trägheit auf sie schieben, nehmen wir weiterhin denjenigen weg, die ohnehin schon auf den untersten Rang der Hackordnung gedrängt sind. Auch die Hetze rechter Kreise gegen Einwanderer und sogenannte „Sozialschmarotzer“ macht es deutlich: Bedroht fühlen wir uns keineswegs von überzahlten Managern und Investoren, die mit einer Handbewegung hunderte und tausende von Arbeitsplätzen auslöschen, um selbst mehr Gewinnausschüttungen abzukassieren, nein, bedroht fühlen wir uns von Menschen, die in ihrer Verzweiflung und im Kampf ums nackte Überleben an unsere Küsten geschwemmt werden, die uns für einen Spottlohn die Drecksarbeit abnehmen und gesellschaftlich geächtet in Sozialvierteln hausen. Hier orten wir die wahre Gefahr, während wir anstandslos zulassen, dass uns die Superreichen ihre Luxusvillen vor die Nase klotzen. Wenn wir ganz nett lächeln, vielleicht geben sie uns ja etwas von ihrem Glanz und ihrer Herrlichkeit ab?

Angesichts solcher Tatsachen ist es schwierig, den Kampf gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Umweltzerstörung aufzunehmen, zumal wir so wenig tun können. Und ich muss es zugeben: Auch ich selbst bin oft der ständigen Selbstüberwachung müde. Nein, keine verbrecherischen Thunfischdosen mit Delphinanteil kaufen. Überhaupt nie wieder Fisch essen, der nicht nachhaltig und in Süßwasser gezüchtet wurde. Keine Schurkenkonzerne unterstützen.  Zu  Fuß gehen. Nur faire Bananen, faire Schokolade, fairen Kaffee, fairen Tee kaufen und verhindern, dass mir etwas anderes vorgesetzt wird. Im Restaurant nur Speisen bestellen, die so klingen, als könnten sie von den umliegenden Bauernhöfen stammen, als wären die Hühner glücklich, die Brokkoli pestizidfrei aufgewachsen. Keine Chemiekeulen verwenden. Generika kaufen und keine Pharmakonzerne mitfinanzieren, die in Entwicklungsländern fragwürdige Menschenexperimente durchführen. Das alles ist mühsam und zugleich nur ein winziger Tropfen auf einem längst schon viel zu heißen Stein. Wenn dann noch die Nachrichten kommen, dass, wo Bio draufsteht, umetikettiertes Gammelfleisch drin ist, dass schon wieder irgendwo auf der Welt auf den Feldern Soja als Futter für Schlachttiere angebaut wird, während zugleich die Kleinbauern verhungern, oder dass der Meeresgrund über weite Strecken eine leergefischte Giftwüste ist, dann möchte ich alles hinwerfen. Sie wiegt mir zu schwer, meine Erbsünde, die ich mit dem Privileg meiner Geburt in einem wohlhabenden Teil der Welt mitbekommen habe. Leider gelingt es mir längst nicht mehr, es mir leicht zu machen und mir einzureden, wir hätten alle unsere Vorteile verdient, weil wir tüchtiger, fleißiger, klüger wären als die Menschen in den Entwicklungsländern. Zu deutlich zeigt die Geschichte, dass unsere Innovationen, unsere rasante Entwicklung, unsere Vormachtstellung auf Diebstahl, Unterdrückung, Versklavung, Ungleichbehandlung, Gewalt und Mord beruhen. Unsere Vorfahren haben unvorstellbares Leid über die Menschen auf der ganzen Welt gebracht, sie haben ihre Bodenschätze geraubt, ihr Wissen gestohlen, ihre Kinder ermordet, sie teilweise mit voller Absicht mit tödlichen Seuchen infiziert und ihr Land in Besitz genommen. Diese Ungerechtigkeiten sind nie wieder gut gemacht worden, und heute scheinen sie uns so fern, dass wir uns damit nicht mehr identifizieren. Die Früchte dieser Ungerechtigkeiten jedoch ernten wir noch heute. Wir stehen somit auf den Schultern von Räubern, Vergewaltigern, Brandschatzern, Mördern, denen wir unseren Lebensstil zu verdanken haben. Dass wir uns das nicht ausgesucht haben, liegt auf der Hand. Dennoch gibt es nur eine Chance, die endlose Kette der stetig anwachsenden Erbschuld zu durchbrechen: Wir müssen die Augen öffnen und den Tatsachen ins blutrünstige Antlitz schauen. Das ist schwierig und schmerzhaft. Einfache Schuldzuweisungen auf die üblichen Sündenböcke genügen ebenso wenig wie eine Umstellung auf Hirselaibchen und Birkenstocksandale. Ein mündiges, engagiertes Auftreten ist mühsam und frustrierend, und nur zu gerne würden wir es anderen überlassen. Doch gerade das ist eine Lehre, die wir aus dem Christentum und der Geschichte des Jesus von Nazareth ziehen können: Letztlich ist jeder für seine Erlösung selbst verantwortlich.

veröffentlicht in der Südtiroler Tageszeitung am 31.12.2008

 
 

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